Die Meerhexe
Vorratshütte enthielt mehrere Seilrollen und zeichnete sich durch einen durchdringenden Gestank nach ranzigem Öl sowie eine beträchtliche Anzahl von äußerst lebhaften Küchenschaben aus. »Los, rein«, befahl Durand den beiden Mädchen. Sie warfen einen Blick in den Raum und wandten sich dann schaudernd ab. »Wir werden nicht in diese ekelhafte Hütte gehen«, erklärte Marina.
Kowenski sagte mit sanfter, schmeichelnder Stimme, die so gar nicht zu dem Colt passen wollte, den er in der Hand hielt: »Wissen Sie denn nicht, was das ist?« Rindler hatte die gleiche Waffe auf Melinda gerichtet.
Die Mädchen wechselten einen kurzen Blick, marschierten dann wie auf Kommando auf die Männer zu, die die Waffen in den Händen hielten, griffen mit der rechten Hand nach den Läufen, hakten ihre rechten Daumen hinter die Zeigefinger der Männer, die am Abzug lagen, und zogen die Pistolen mit einem harten Ruck zu sich heran.
»Ich kann mit meinem Daumen schneller abdrücken, als Sie die Waffe zur Seite reißen können«, sagte Marina. »Möchten Sie es ausprobieren?«
»Großer Gott!« Durand war fassungslos. Bisher hatte er die meisten Situationen gemeistert, aber diesmal war er völlig überrumpelt. »Wollen Sie Selbstmord begehen?«
»Genau«, antwortete Melinda. Sie blickte Rindler unverwandt in die Augen. »Sie sind noch ekelhafter als die Küchenschaben da drin. Sie sind Strolche, die versuchen, meinen Vater zu vernichten. Aber wenn wir tot sind, haben Sie keine Trumpfkarten mehr, die Sie gegen ihn ausspielen können.«
»Sie sind verrückt! Total übergeschnappt!«
»Schon möglich«, sagte Marina. »Aber für Verrückte können wir noch ganz logisch denken. Sie können sich vorstellen, wie mein Vater reagieren wird, wenn ihm nicht mehr die Hände gebunden sind – vor allem, da er ja wie alle Welt glauben wird, daß Sie uns umgebracht haben. Er wird natürlich nicht zu gesetzlichen Mitteln greifen – Sie haben ja keine Ahnung, was man mit ein paar Milliarden Dollar alles erreichen kann. Er wird Sie und Ihre ganze verbrecherische Kumpanei bis zum letzten Mann ausrotten.« Sie sah Kowenski voller Verachtung an. »Warum drücken Sie denn nicht ab? Trauen Sie sich nicht? Dann lassen Sie die Waffe fallen.« Kowenski und Rindler gehorchten.
»Meine Schwester und ich werden einen kleinen Spaziergang machen«, verkündete Melinda. »Und wenn wir zurückkommen, haben Sie hoffentlich ein Quartier hergerichtet, das den Töchtern von Lord Worth angemessen ist.«
Durand war gelblich-blaß; seine Stimme klang heiser und alles andere als fest, als er jetzt versuchte, ein Quentchen Autorität zurückzugewinnen: »Gehen Sie spazieren, wenn es unbedingt sein muß. Heffer, Sie begleiten die beiden. Wenn sie krumme Touren versuchen, schießen Sie sie in die Beine.«
Marina bückte sich, hob Kowenskis Waffe auf, ging zu Heffer hinüber und rammte ihm den Lauf in sein linkes Auge. Heffer heulte vor Schmerz laut auf. »Ich mache Ihnen ein faires Angebot«, sagte sie, »wenn Sie mich ins Bein schießen – jetzt, meine ich –, blase ich Ihnen das Hirn aus dem Kopf.«
»Großer Gott!« sagte Durand wieder. Sein Tonfall war fast flehend. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick die Hände ringen.
»Irgend jemand muß doch mit Ihnen gehen. Wenn Sie allein herumspazieren und nicht in Gefahr sind, werden uns Palermo und seine Männer zu Gulasch verarbeiten.«
»Na, das ist doch eine großartige Idee.« Marina zog den Lauf der Pistole von Heffers Auge zurück, das bereits dunkelblau anschwoll, und sah ihn voller Abscheu an – er sah aus wie eine Ratte. »Wir können Ihren Standpunkt ja durchaus verstehen. Aber wir bestehen darauf, daß dieses – dieses Untier sich uns unter keinen Umständen auf mehr als zehn Meter nähert. Ist das klar?«
»Ja, ja, natürlich.« Wenn sie von ihm verlangt hätten, ihnen den Mond zu holen, hätte er es auch getan. Nachdem sie in überzeugender Weise demonstriert hatten, aus welchem Holz man geschnitzt war, wenn man auf siebzehn Generationen schottischer Hochlandaristokratie zurückblicken konnte, schlenderten die beiden Mädchen auf den Rand der Plattform zu. Sie waren bereits zwanzig Meter gegangen, als sie plötzlich heftig zu zittern begannen. Es gelang ihnen nicht, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, und sie hofften nur inständig, daß Heffer nichts bemerkte.
»Würdest du es nochmal tun?« fragte Marina flüsternd, und auch ihre Stimme zitterte.
»Nie, nie, nie. Bevor ich so
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