Die Meerhexe
anderen Quartieren aufhielt, hatte er nichts zu befürchten. Die beiden anderen patrouillierten auf der Plattform. Lord Worth, die Seismologen und die beiden Mädchen waren nicht in die Vorsichtsmaßnahmen einbezogen – verächtlich dachte Palermo, daß ihm von dort keine Gefahr drohe. Außerdem waren sie unbewaffnet. Dennoch hatte er die beiden Wachen auf der Plattform dahingehend instruiert, daß zumindest einer von ihnen ein Auge auf die Türen zu Lord Worths Suite, dem Labor und der Krankenstation haben sollte, die innen durch Verbindungstüren miteinander verbunden waren.
Unglücklicherweise hatte niemand in den drei Räumen die Lautsprecherdurchsage gehört, weil Lord Worth für das gesorgt hatte, was er als Minimum an Komfort betrachtete: da es auf Bohrinseln unter Umständen recht laut zugeht, waren die drei Räume mit schalldämmenden Wänden versehen worden. Mitchell hatte sich zur Zeit der Durchsage in dem winzigen Labor aufgehalten und immer wieder den Grundriß der Meerhexe studiert, bis er sicher war, daß er sich auch mit verbundenen Augen zurechtfinden würde. Dazu hatte er etwa zwanzig Minuten gebraucht. Fünf Minuten nach Beginn seiner Studien waren die Schüsse gefallen, aber er hatte sie natürlich nicht gehört. Er war gerade dabei gewesen, die Pläne in eine Schublade zu legen, als die Tür aufging und Marina hereinkam. Sie war leichenblaß und zitterte; ihr Gesicht war tränenüberströmt. Er nahm sie in die Arme, und sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm.
»Warum warst du nicht da?« schluchzte sie. »Warum warst du nicht da? Du hättest es verhindern können. Du hättest sie retten können!«
»Was verhindern? Wen retten?« fragte Mitchell.
»Melinda und John, sie sind schwer verletzt.«
»Wie?«
»Es ist auf sie geschossen worden.«
»Geschossen? Ich habe nichts gehört.«
»Natürlich nicht. Diese Räume hier sind schalldicht. Deshalb haben Melinda und John ja auch die Lautsprecherdurchsage nicht hören können.«
»Lautsprecherdurchsage? Jetzt erzähl mal alles der Reihe nach.«
Sie berichtete ihm alles so langsam und zusammenhängend, wie sie es fertig brachte. Es war eine Warnung durchgegeben worden, die aber aufgrund der schalldichten Wände in der Suite nicht gehört worden war. Als der Regen vorübergehend aufhörte und Mitchell sich mit den Plänen ins Labor zurückzog, hatten Melinda und John beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie waren am Fuß des Bohrturms herumgeschlendert, wo kaum Lampen brannten, weil auf Durands Anordnung die Arbeit niedergelegt worden war. Dort hatte man sie ohne Vorwarnung niedergeschossen.
»Du sagtest, sie seien schwer verletzt. Wie schwer?«
»Ich weiß es nicht genau. Dr. Greenshaw operiert gerade. Ich bin zwar kein Feigling, das weißt du, aber es war überall soviel Blut, daß ich gar nicht richtig hinschauen konnte.«
Als er im Krankenrevier ankam, konnte er es ihr nicht verübeln. Melinda und Roomer lagen nebeneinander auf zwei Feldbetten und waren blutüberströmt. Melindas linke Schulter war dick verbunden. Roomer hatte einen Verband um den Hals, und Dr. Greenshaw verarztete gerade eine Wunde in seiner Brust. Lord Worth saß mit wutverzerrtem Gesicht auf einem Stuhl. Durand stand in der Tür – seine Miene verriet keine Gefühlsregung. Mitchell sah die beiden Männer nachdenklich an und wandte sich dann an Dr. Greenshaw: »Wie sieht's denn aus Doktor?«
»Man höre sich das an!« Roomers Stimme war nur ein heiseres Flüstern, und sein Gesicht ließ deutlich seine Schmerzen erkennen. »Auf die Idee, uns zu fragen, wie es uns geht, kommt du wohl nicht.«
»Gleich. Also, Doktor?«
»Lady Melindas linkes Schulterblatt ist ziemlich schwer angeschlagen. Ich habe die Kugel entfernt, aber sie braucht trotzdem sofort chirurgische Hilfe. Ich bin zwar auch Chirurg, aber kein orthopädischer, und einen solchen braucht sie. Roomer hatte noch weniger Glück – ihn hat's gleich zweimal erwischt. Die Kugel, die den Hals durchschlagen hat, ging um Haaresbreite an der Schlagader vorbei, aber es ist ein glatter Durchschuß und also nicht so tragisch. Die Brustwunde dagegen ist ernst. Nicht lebensgefährlich, aber ernst. Die Kugel hat den linken Lungenflügel erwischt, das ist ganz sicher. Da die innere Blutung aber nicht sehr stark ist, nehme ich an, daß sie ihn nur gestreift hat. Was viel schlimmer ist – ich habe den Verdacht, daß die Kugel an der Wirbelsäule steckt.«
»Kann er seine Zehen
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