Die Meerhexe
mit so entsetztem Gesicht auf Armeslänge von sich weghielt, daß man hätte denken können, es handle sich um eine Giftschlange.
»Mitchells?« fragte Roomer.
»Ja –«
»Bring sie lieber wieder zurück. Er wird sie sehr bald brauchen.«
Als sie zurückkam, fragte Melinda sie: »Glaubst du wirklich, du könntest einen Mann heiraten, der andere Menschen umbringt?« Marina schauderte und schwieg.
»Immer noch besser als einen Feigling, oder?« meinte Roomer sarkastisch.
Im Generatorraum fand Mitchell sofort, was er suchte – einen Unterbrecher mit der Aufschrift ›Deckbeleuchtung‹. Er zog den Hebel herunter und trat dann auf die jetzt in völliger Dunkelheit liegende Plattform hinaus. Er wartete eine halbe Minute, bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, und bewegte sich dann geräuschlos auf den Kran zu, an dessen Fuß zwei Männer deutlich hörbar saftige Flüche ausstießen. Er schlich näher heran, bis er nur noch etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt war. Immer noch geräuschlos legte er seine Taschenlampe auf den Lauf seiner Smith & Wesson und schaltete sie ein.
Die beiden Männer fuhren gleichzeitig herum und griffen nach ihren Waffen.
»Sie wissen doch sicher, was das hier ist?« fragte Mitchell.
Sie wußten es offensichtlich – man konnte die blauschimmernde und mit einem Schalldämpfer versehene Achtunddreißiger schwerlich für eine Spielzeugpistole halten. Ihre Hände hielten mitten in der Bewegung inne – es war ziemlich enervierend, sich einer angeleuchteten Waffe gegenüberzusehen und ansonsten von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben zu sein.
»Verschränken Sie die Hände im Nacken, drehen Sie sich um und marschieren Sie los.«
Sie marschierten gehorsam los und blieben erst stehen, als es nicht mehr weiterging – am Rand der Plattform. Noch einen Schritt und sie wären sechzig Meter tief in den Golf von Mexiko gestürzt.
»Lassen Sie die Hände schön zusammen, und drehen Sie sich zu mir um«, kommandierte Mitchell.
Sie gehorchten. »Sind Sie Kowenski und Rindler?«
Sie antworteten nicht.
»Sind Sie die beiden, die Lady Melinda und Mr. Roomer niedergeschossen haben?«
Wieder bekam er keine Antwort – bei manchen Leuten tritt eine Stimmbandlähmung ein, wenn sie wissen, daß sie eine Sekunde später tot sein werden. Mitchell drückte zweimal ab und war bereits wieder auf dem Rückweg, als die Körper der toten Männer auf dem Wasser aufschlugen. Aber er war erst vier Schritte gegangen, als ihn der Strahl einer Taschenlampe ins Gesicht traf.
»Na, so was, wenn das nicht Mitchell ist, der ach so harmlose Hasenfuß.« Mitchell konnte den Mann hinter der Taschenlampe und die Waffe, die er sicherlich in der Hand hielt, nicht sehen, aber er erkannte Heffer sofort an der Stimme. »Und er hat sogar eine Waffe dabei. Was hatten Sie denn vor, Mr. Mitchell?«
Aber Heffer hatte bereits einen großen Fehler gemacht – er hätte Mitchell sofort erschießen müssen und nicht erst Fragen stellen.
Mitchell knipste seine Taschenlampe an, dann warf er sie in die Luft, wo sie herumtorkelte wie ein betrunkenes Glühwürmchen. Es war nur allzu menschlich, daß Heffer automatisch nach oben schaute. Zwar wunderte er sich dabei noch, was Mitchell damit bezweckte, aber es war ihm nicht mehr vergönnt, diese Überlegung zu Ende zu führen, denn als die Taschenlampe auf dem Boden aufschlug, war er bereits tot.
Mitchell hob die Lampe auf, die überraschenderweise noch funktionierte, zerrte Heffer an den Füßen zum Rand der Plattform und stieß ihn hinunter. Dann kehrte er zum Krankenrevier zurück, zog seine Schuhe wieder an und öffnete die Tür zur eigentlichen Krankenstation. Dr. Greenshaw hatte seine beiden Patienten an Blutkonserven gehängt.
Roomer schaute auf die Uhr. »Sechs Minuten. Wo warst du denn so lange?«
Marina, die offensichtlich am Rande ihrer Nervenkraft war, starrte ihn halb ungläubig und halb verdutzt an.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Mitchell mit echtem Bedauern in der Stimme, »ich hatte das Pech, auf dem Rückweg Heffer in die Arme zu laufen.«
»Du meinst, er hatte das Pech, dir in die Arme zu laufen. Und wo sind unsere Freunde?«
»Das kann ich dir nicht exakt beantworten.«
»Verstehe«, nickte Roomer, »man kann die Wassertiefe in dieser Gegend wirklich nur sehr schwer schätzen.«
»Ich könnte es ja feststellen, aber ich glaube kaum, daß es wichtig ist. Dr. Greenshaw, haben Sie Tragbahren – so mit Riemen und allem, was dazugehört?«
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