Die Meisterin der schwarzen Kunst
die Melodie beigebracht hat?», drängte Barthel. «Du musst dich mir anvertrauen, nur so kann ich dich beschützen.»
Henrika stieß scharf die Luft aus. Ausgerechnet er forderte von ihr Vertrauen. Das war ungeheuerlich. War nicht er es gewesen, der ihr verboten hatte, ihn mit Fragen über ihre Mutter und deren Schicksal zu behelligen, solange er an seinen Skizzen arbeitete? Ihre Gabe, wenn es eine solche denn war, schien ihn nicht zu erschrecken, wie sie eigentlich erwartet hatte. Vielmehr schien er lange nach jemandem gesucht zu haben, der sie besaß und an dem er sie studieren konnte. Er vermutete, in ihr eine jener Hüterinnen der Verse gefunden zu haben, nach denen sein Freund offenbar schon sein Leben lang suchte.
Henrika verschränkte fröstelnd die Arme. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Erinnerungen, die Agatha ihr mit verbissener Strenge ausgetrieben hatte, eines Tages in ihr Gedächtnis zurückkehren würden, wenn auch nur für wenige Augenblicke. Ihr Kopf war leer, und wenn man sie auch gefoltert hätte wie Barthels flämischen Freund, sie konnte sich an kein einziges Wort, an keine Note der Melodie erinnern. Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie die Verse jemals wieder aussprechen wollte.
«Ich fürchte, ich muss Euch enttäuschen», sagte sie schließlich. «Möglich, dass ich die Verse als kleines Mädchen aufgeschnappt habe, aber ich weiß nichts darüber.»
«Dann hat dir nie jemand gesagt, dass dein Gesang heilende Kräfte hat?»
Nein, niemand hatte mit ihr darüber gesprochen, aber das war auch nicht nötig gewesen. Insgeheim spürte sie, dass die Verse von der Stunde ihrer Geburt an in ihr lebendig gewesen waren und ihr Leben beherrscht hatten. Barthel schien dies auch zu ahnen, denn als sie die Augen niederschlug und sich abwandte, sah er ein, dass er sie nicht mit weiteren Fragen quälen durfte. Für den Moment hatte er vermutlich ohnehin genug gehört, er würde viel Zeit brauchen, das Erlebte zu verarbeiten. Er war ein Mann der Wissenschaft, und sie bewunderte ihn dafür. Gewiss würde sie ihn davon überzeugen können, dass er sich im Irrtum befand. Welche Gabe auch immer in ihr wohnen mochte, heilende Hände hatte sie nicht, und die Annahme, sie könnte durch den Vortrag eines Liedes Wunden schließen, klang für sie ebenso unglaublich wie die Behauptung, Menschen könnten eines Tages über den Mond spazieren.
Ich kann sie gesund machen. Ich kann sie heilen.
«Vermutlich wollte ich mich als Kind einfach nicht damit abfinden, dass meine Mutter starb und mich allein zurückließ», sagte sie unsicher. «Vielleicht bildete ich mir nur ein, etwas dagegen unternehmen zu können oder ein Geheimnis zu hüten, um nicht zugeben zu müssen, wie hilflos ich in Wirklichkeit war.»
«Der Bursche hat mir beinahe den Hals zerquetscht, aber ich spüre weder Schmerz noch Heiserkeit.»
«Dann hat er vielleicht gar nicht so kräftig zugedrückt, wie Ihr glaubtet. Vielleicht sollten wir es besser dabei belassen, dass wir uns in der Aufregung Dinge eingebildet haben, die nicht existieren.»
«Wie du meinst», erwiderte er kurz angebunden. «Lassen wir die Sache auf sich beruhen und bereiten uns auf den Besuch vom kurfürstlichen Hof vor.»
Henrika nickte erleichtert, doch sie bezweifelte, dass die Angelegenheit damit für Barthel erledigt war.
7. Kapitel
Es war bereits früher Nachmittag, als drei prunkvoll geschmückte Wagen auf der Landstraße gesichtet wurden.
Ein paar Knaben rannten mit aufgeregten Mienen neben ihnen her und schwenkten ihre Kappen, wofür sie mit Kupfermünzen, Früchten und Süßigkeiten belohnt wurden, die aus den Fenstern der Karossen auf die Gasse geworfen wurden. Eifrig klaubten die Burschen so viel auf, wie sie in ihren Händen tragen konnten. Sie störten sich nicht an den missbilligenden Blicken ihrer Eltern und Nachbarn, die vor den Häusern oder an der Mauer des alten Kirchhofs standen und beobachteten, wie die Kutschen auf das Tor des Zollhofs zuhielten.
Henrika hatte das feine Kleid mit den Spitzenärmeln angezogen, das Barthel ihr aus der Stadt mitgebracht hatte. Verzweifelt bemühte sie sich, ihr Haar mit Bürstenstrichen zu glätten. Zu ihrem Leidwesen roch es nach Verbranntem. Da sie keine der Frauen im Dorf um Hilfe bitten konnte, war das Ergebnis nicht ansehnlich, doch Barthel war mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigt, um Henrika kritisch zu begutachten.
«Originell», war seine einzige knappe Bemerkung, als Henrika die Treppe zur
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