Die Meisterin der schwarzen Kunst
Wirtin.
«Was soll dieser Lärm bedeuten?», rief sie mit gedämpfter Stimme. «Das Wirtshaus ist geschlossen, also packt Euch, bevor ich den Dorfbüttel … ich meine den Stadtknecht zu Hilfe rufe!»
«Tante Elisabeth.» Henrika winkte. «Ich bin es, Henrika. Du musst mir die Tür öffnen, es ist etwas Furchtbares geschehen.»
Doch die Wirtin machte keine Anstalten, sich zu rühren. Abwartend beugte sie sich aus der Luke, die rechte Hand schützend vor die Flamme ihres Lichts haltend. Henrika konnte sehen, wie der Schatten einer zweiten Frau hinter ihr auftauchte. Diese legte ihr eine Hand auf die Schulter und versuchte, sie von der Luke wegzuziehen. Als der Schein der Lampe auf ihr Gesicht fiel, sah Henrika, dass es Agatha war. Sie stöhnte innerlich auf vor Enttäuschung. Ausgerechnet Agatha. Von der alten Hutmacherin erwartete sie keine Hilfe. Tatsächlich machte die Wirtin ihr mit einem ergebenen Nicken Platz und verschwand dann selbst in der Dunkelheit ihrer Kammer.
«Was suchst du hier, Henrika?», wollte die Hutmacherin wissen. Es klang nicht gerade erfreut. Das verkniffene Gesicht der Frau, das jede Fröhlichkeit vermissen ließ, wirkte noch länger und spitzer als sonst, was wohl an dem schwarzen Schal lag, den sie sich um den Kopf gewunden hatte. «Wenn du glaubst, dass wir dir die Tür öffnen, hast du dich getäuscht. Also sieh zu, dass du verschwindest.»
«Ein Mörder schleicht durch die Stadt, Mutter Hahn», schrie Henrika verzweifelt gegen den Sturm an. Sie konnte spüren, wie ihre Kräfte sie verließen. Eine neue Welle aus Angst und Benommenheit überfiel sie. Aber auch Wut regte sich in ihr. Was suchte die alte Hutmacherin ausgerechnet in dieser Nacht bei Elisabeth? Hatte sie ihr Haus aufgeben müssen und vorübergehend Zuflucht bei ihrer Schwester gefunden? Möglich war es.
«Man hat den Festungsbaumeister erschlagen. Unten, im Brückentorhaus …»
Agatha Hahn winkte ab. «Also musste der arme Narr nun auch dran glauben, weil er dir die Tür geöffnet hat», sagte sie betont gleichmütig. Sie warf einen Seitenblick in die Stube, wo die Wirtin offensichtlich noch stand und abwartete, welchen Entschluss Agatha fasste. Plötzlich hielt diese einen Stab in der Hand, den sie wie eine Fahnenstange aus der Dachluke schob. Henrika erkannte den Stab auf Anhieb. Er hatte dem Hutmacher gehört. Für jede Meile, die er einst als Geselle zurückgelegt hatte, hatte er eine Kerbe ins Holz geschnitzt.
«Wir wollen mit deinen Scherereien nichts zu tun haben, Henrika», erklärte Agatha mit kalter Stimme. «Wer auch immer heute Nacht gewaltsam ins Wirtshaus eindringen will, wird Bekanntschaft mit Hahns Stab machen, verstanden?»
Henrika sah ein, dass von den Frauen im Wirtshaus keine Hilfe zu erwarten war. Sie wartete nicht ab, bis Agatha die Fensterluke zuschlug, sondern machte kehrt und rannte die Straße hinunter. So schnell sie konnte, überquerte sie den Kirchhof und stieß das angelehnte Tor auf, das auf den Hof der Zollschreiberei führte.
Anna hatte sich noch nicht zum Schlafen gelegt. Sie empfing Henrika stickend in der Tafelstube, legte ihre Handarbeit aber sofort zur Seite, als sie das durchgefrorene Mädchen über die Schwelle stolpern sah. Jäh sprang sie von der Ofenbank auf. Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle.
«Wo hast du nur so lange gesteckt? Und was ist mit deinen Kleidern geschehen? Hattest du einen Unfall?» Sie deutete auf Henrikas Rock und ihren Schnürkittel. Henrika senkte den Blick. In der Aufregung war ihr entgangen, dass Blut und Schmutz an ihrer Kleidung und an ihren Händen klebten. Zitternd wich sie zurück. Sie musste Anna zu Tode erschreckt haben, aber das ließ sich nicht ändern. Stockend berichtete sie von Barthels gewaltsamem Tod und wie sie sich durch den Sturm zum Zollhof gekämpft hatte. Sie hatte kaum geendet, als sich vor der Stube Stimmen regten. Die alte Köchin Greta klopfte an und steckte den Kopf durch die Tür. «Euer Pferd wurde versorgt, Herrin. Habt Ihr noch einen Wunsch, bevor …» Sie verstummte mitten im Satz, als ihr Blick auf Henrika fiel. Dann kreischte sie schrill auf und riss die Arme in die Höhe. «Jesus, heiliger Jesus!»
Von dem Gebrüll angelockt, tauchten nun auch die Hausmägde und die beiden Knechte auf. Sonderbarerweise schien keiner von ihnen geschlafen zu haben. Obwohl es schon spät war, waren sie angekleidet; ihre Augen blitzten erwartungsvoll. Henrika verstand nicht, was die Knechte ausgerechnet zu dieser Stunde in den
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