Die Meisterin der schwarzen Kunst
aufsprang und sich mit hastigen Bewegungen die Strohhalme von der Kleidung klopfte. Aber natürlich, das war es.
Der Albtraum, der sie zu Barthels Todesstunde gequält hatte. Ihre Schläfrigkeit. Ja, es passte zusammen; urplötzlich ergab alles einen Sinn. Sie hatte nichts von alldem mitbekommen, was sich in der Brückentorstube ereignete, weil sie betäubt gewesen war. Jemand musste dem Bier ein Mittel beigemischt haben, bevor sie es im Kessel erhitzt hatte. Ein Mittel, das unter all den anderen Kräutern nicht gleich aufgefallen war. Dieser Jemand war so verschlagen gewesen, sie gezielt eine Weile außer Gefecht zu setzen.
Trotz ihrer Aufregung zwang sich Henrika, ruhig nachzudenken. Wer kam für so eine abscheuliche Tat in Frage? Hatte sie vor dem Brückenturm Fußspuren im Schnee gesehen? Es war wie verhext, sie erinnerte sich beim besten Willen nicht. Abgesehen davon lagen ihre eigenen Spuren inzwischen unter einer dichten Schicht Neuschnee verborgen. Nein, das war es nicht. Etwas anderes ging ihr im Kopf herum. Etwas, das sie unterwegs, auf ihrem Irrgang durch den Ort, gesehen hatte? Eine Bemerkung, die gefallen war?
«Denk nach, Henrika», befahl sie sich verzweifelt. «Du musst darauf kommen, du musst dich erinnern.»
Als sie sich erhob, bemerkte sie, dass etwas in ihrem Kleid steckte. Barthels Aufzeichnungen. Sie entsann sich wieder, einige Papiere aufgehoben und in ihrem Mieder versteckt zu haben. Nun aber zog sie die zerknitterten Seiten hervor und starrte sie an. Im Verschlag war es zu dunkel, um etwas entziffern zu können, daher öffnete sie die Tür und trat hinaus ins Freie. Der stetig rieselnde Schnee hatte ihre Spuren noch nicht völlig überdeckt, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis sie verschwunden waren. Ohne auf die Kälte zu achten, lehnte sich Henrika gegen die Wand und vertiefte sich in die Zeilen des ersten Blattes. Es handelte sich um einen Brief. Er war im Sommer des Jahres 1607 in niederländischer Sprache geschrieben worden und an einen gewissen Quinten Marx van Oudenaarde gerichtet. Henrika runzelte die Stirn. Quinten Marx van Oudenaarde. Der Name klang interessant, sagte ihr aber nichts, und die wenigen Wörter Niederländisch, die sie von Barthel gelernt hatte, reichten bei weitem nicht aus, um sich zusammenzureimen, was er dem Mann hatte mitteilen wollen. Allerdings schien er ihm etwas über sie geschrieben zu haben, denn im letzten Absatz fand sie zu ihrer Bestürzung ihren eigenen Namen neben dem Wort bloeddochter, was entweder blöde Tochter oder Bluttochter heißen mochte.
Henrika starrte auf die zerknitterte Seite und strich sie mit den Fingern glatt, als könne sie dadurch das Rätsel lösen. Was um Himmels willen war eine bloeddochter ? Sie nahm sich das nächste Papier vor, hob aber erschrocken den Kopf, als unvermittelt ein Geräusch an ihr Ohr drang. Es hörte sich an wie das Schnauben eines Pferdes. Rasch steckte sie die Briefe in ihr Mieder und zog sich wieder in den Verschlag zurück. Durch einen Spalt in der Tür spähte sie nach draußen.
Von der hellen Schneedecke hob sich die dunkle Silhouette eines einzelnen Reiters ab. Sein Tier kam nur langsam voran, hielt aber zielstrebig auf die Schäferhütte zu. Es war nicht Anna.
Henrika schloss die Tür und blickte sich voller Angst nach einer Fluchtmöglichkeit um. Ihr Herz pochte wild gegen die Rippen. Als hätte die aufsteigende Panik ein Siegel gebrochen, jagte nun eine schreckliche Erkenntnis durch ihren Kopf. Siedend heiß fiel ihr ein, was sie in der Zollschreiberei stutzig gemacht hatte. Es ging um eine Bemerkung, welche die alte Köchin gemacht hatte, als sie die Tafelstube betreten hatte.
« Euer Pferd wurde versorgt, Herrin. Habt Ihr noch einen Wunsch, bevor …»
Anna besaß kein Pferd; sie pflegte sich eines aus Barthels Stall auszuleihen, wenn sie in die Stadt wollte. Ihr gegenüber hatte sie jedoch mit keiner Silbe erwähnt, dass sie bei diesem garstigen Wetter ausgeritten war. Im Gegenteil, sie hatte behauptet, die Zollschreiberei nicht verlassen zu haben. Wer außer ihr aber sollte ein Pferd aus dem Stall genommen haben, um trotz des fürchterlichen Schneesturms in die Stadt zu reiten?
Anna von Neufeld, dachte Henrika, benommen vor Angst und Enttäuschung. Sie hatte das Kräuterbier mit einem Schlafmittel versetzt und war zu Barthel gegangen, nachdem Henrika eingeschlafen war.
Es blieb ihr nur noch Zeit, eine der dreigabeligen Forken zu ergreifen und sich mit ihr unter einer Strohschicht
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