Die Melodie des Todes (German Edition)
das sie so oft besuchten. Dann müsste sie nicht länger in Dänemark bleiben, so weit entfernt von ihm, und er konnte endlich das Leben führen, das ihm gebührte. Dann würde alles gut werden. Außerdem machte sie sich Sorgen. Sie wusste nicht, auf welche Ideen ihr Vater kommen konnte, solange er die wirkliche Herkunft ihres Liebs ten nicht kannte. Er war so wütend geworden, als er von ihrer ersten Begegnung im März erfahren hatte und dass sie von ihm schwanger war. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie mussten die Nachricht erhalten.
Damit begann sie zu schreiben.
Trondheim, Juli 1767
Søren Engel las schweigend den Brief seiner Tochter. Dann stand er auf und gab Order, ein Pferd zu satteln und aus dem Stall zu führen. Er ritt auf direktem Wege zum Gut Ringve, wo der Korvettenkapitän ihn empfing. Er zeigte ihm den Brief und musterte seinen Freund beim Lesen.
»Kann das stimmen?«, fragte Herr Engel.
»Da war etwas in seinem Gesicht«, sagte der Korvetten kapitän aufgeregt. »Als er fiel.«
Engel stand schweigend da und dachte an das, was Nils Bayer zu ihm gesagt hatte: »Gerechtigkeit kann auf vielerlei Weise erlangt werden.«
Hatte der Polizeimeister etwas gewusst? Seine Gedanken wur den von den Worten des Korvettenkapitäns jäh unterbrochen.
»Was haben wir getan?«, rief er plötzlich aus. »Was habe ich getan?«
»Ich glaube, wir haben nicht nur den Vater des ungeborenen Kinds meiner Tochter getötet«, sagte Søren Engel. »Ich fürchte, wir haben auch Euren Sohn getötet.«
Als Søren Engel wieder zurück in die Stadt ritt, überließ er Wessel den Brief, als könne ihm dieser Trost spenden. Der Kor vettenkapitän rief einen der Schreiner zu sich, die gerade auf dem Hof arbeiteten, um in der guten Stube eine neue Vertäfelung zu machen.
»Nehmt diesen Brief und baut ihn irgendwo in der Wand ein«, sagte er. »Ich will ihn nie wieder sehen.«
»Aber wenn Ihr ihn nicht mehr sehen wollt, wäre es dann nicht besser, den Brief zu verbrennen?«
»Man kann seine Sünden nicht verbrennen«, sagte der Kor vettenkapitän. »Man muss bis zum bitteren Ende mit ihnen leben, wie grauenvoll sie auch sein mögen.«
Der Schreiner musterte ihn skeptisch, als wäre er sich sicher, dass der Herr des Hauses den Verstand verloren hatte, ehe er den Brief nahm und verschwand.
E IN PAAR W ORTE ÜBER DEN R OMAN UND DAS HISTORISCHE T RONDHEIM
D ie Geschichte von Nils Bayer aus dem Trondheim des 18. Jahrhunderts ist natürlich ebenso fiktiv wie Odd Sings akers Jagd nach Julie Edvardsens Kidnapper. Die meisten Personen des Romanjahrs 1767 sind von A bis Z frei erfunden. Trondheim war damals eine kleine Stadt mit knapp 5 000 Einwohnern, und die Oberklasse beschränkte sich auf eine Handvoll Personen, von denen viele noch heute bekannt sind. Diese Menschen hatten einen starken Einfluss auf die Geschichte der Stadt, und es ist fast undenkbar, sich die Stadt im Jahre 1767 ohne diese Persönlichkeiten vorzustellen. Deshalb kommt man in einem Roman aus dieser Zeit kaum umhin, sie zu erwähnen. In meinem Buch habe ich mich diesem Problem aus zwei Richtungen anzunähern versucht.
Erstens: Auch wenn alle wichtigen Protagonisten meines Buchs fiktiv sind, schließt das nicht aus, dass sie Züge von realen, lebenden Menschen tragen. Trondheim stellte bereits 1686 seinen ersten Polizeimeister ein und war damit die erste Stadt des Landes mit einer solchen Position. Der Polizeimeister in Trondheim hieß im Jahre 1767 Søren Madsen Næbell. Wie Nils Bayer bezahlte auch er viel zu viel für sein Amt und lebte in konstanter Geldnot. Er war ein streitsüchtiger Mensch, der sich mit vielen in der Stadt anlegte, darunter auch zahlreichen Vertreter der Obrigkeit. Doch im Gegensatz zu Bayer deutet nichts darauf hin, dass Næbell ein Alkoholproblem hatte. Er galt als ein sehr betriebsamer, moralischer Polizist, der alles nur Erdenkliche unternahm, um dem Trondheimer Polizeimeisteramt Ansehen und Status zu verleihen.
Der reiche Handelsmann Søren Engel hat nicht wie Bayer ein direktes Vorbild, aber sein Name verweist auf den alles andere als armen Thomas Angell (169 2 – 1767), der ein paar Jahre älter als der Søren Engel des Buchs war und in Wahrheit in dem Jahr starb, in dem das Buch spielt. Er ist in der Stadt noch immer als derjenige bekannt, der sein Vermögen den Ärmsten der Armen hinterlassen hat.
Ansonsten gab es in Trondheim 1767 einen Staatsphysikus namens Robertus Stephanus Henrici (1715–1781), der aber mit Staatsphysikus
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