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Die Memoiren des Grafen

Die Memoiren des Grafen

Titel: Die Memoiren des Grafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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besaß auch Klugheit und Mut. Virginia war so vertieft in ihre Überlegungen, dass ihr nicht auffiel, mit welcher Selbstverständlichkeit der Fremde ihren Namen nannte.
    «Wieso hörte Elise den Schuss nicht? Das ist seltsam.»
    Anthony wies zum offenen Fenster, durch das der Lärm vorbeifahrender Autos hereindrang.
    «Hier haben Sie die Antwort. London ist nicht der Ort, wo man einen Pistolenschuss vernehmen könnte.»
    Mit leichtem Schauder wandte sich Virginia wieder dem Toten zu.
    «Er sieht aus wie ein Italiener», bemerkte sie.
    «Er ist Italiener», bestätigte Anthony. «Ich möchte behaupten, dass er von Beruf Kellner war. Als Erpresser betätigte er sich nur nebenbei. Wahrscheinlich heißt er Giuseppe.»
    «Lieber Gott», rief Virginia aus, «sind Sie Sherlock Holmes?»
    «Nein», meinte Anthony bedauernd. «Das ist ganz gewöhnlicher Schwindel. Ich werde es Ihnen später erklären. Sie sagten, der Kerl habe Geld von Ihnen verlangt. Haben Sie ihm welches gegeben?»
    «Ja, vierzig Pfund.»
    «Das ist unangenehm», sagte Anthony, aber er schien nicht überrascht zu sein. «Nun wollen wir uns das Telegramm ansehen.»
    Virginia nahm das Telegramm auf und reichte es ihm. Sie sah, wie sein Gesicht sehr ernst wurde.
    «Was gibt es?», fragte sie erstaunt.
    Er wies auf den Stempel.
    «Barnes», erklärte er. «Und Sie befanden sich heute Nachmittag in Ranelagh – also ganz in der Nähe. Sie könnten das Telegramm ganz gut selbst aufgegeben haben.»
    Sie fühlte, wie sich das Netz immer enger um sie zusammenzog.
    Er wickelte ein Taschentuch um seine Hand und hob die Pistole auf. Plötzlich merkte sie, wie seine Gestalt sich straffte. Auch seine Stimme klang jetzt knapp und barsch.
    «Mrs Revel, haben Sie diese Pistole jemals gesehen?»
    «Nein», sagte sie verwundert.
    «Sind Sie ganz sicher?»
    «Absolut.»
    «Besitzen Sie eine Pistole.»
    «Nein.»
    «Oder besaßen Sie früher eine?»
    «Nein, nie.»
    Seine Augen fixierten sie, und sie gab ihm den Blick ruhig zurück, erstaunt über seinen Ton.
    Endlich wurde sein Ausdruck weicher, und er seufzte erleichtert.
    «Das ist seltsam», bemerkte er. «Wie erklären Sie sich das?»
    Er hielt ihr die Pistole entgegen. Sie war leicht und klein, beinahe wie ein Kinderspielzeug – und dennoch tödlich. Auf dem Schaft war der Name «Virginia» eingeprägt.
    «Das ist doch nicht möglich!», rief sie aus.
    Ihr Erstaunen war so echt, dass Anthony nicht länger zweifelte, «Setzen Sie sich», sagte er beruhigend. «Dahinter steckt mehr, als es zuerst den Anschein hatte. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Die wirkliche Schreiberin der Briefe ist dem Erpresser hierher gefolgt, hat ihn niedergeschossen, die Pistole fallen lassen, die Briefe entwendet und sich aus dem Staube gemacht. Wäre das denkbar?»
    «Vielleicht», erwiderte Virginia ohne rechte Überzeugung.
    «Die andere Möglichkeit aber ist weit interessanter. Wer diesen Giuseppe tötete, wollte gleichzeitig Sie in Verdacht bringen – vielleicht war das sogar der Hauptzweck. Ihn konnte man schließlich irgendwo abknallen, aber man gab sich alle Mühe, ihn hier zu ermorden. Wer auch immer dahintersteckt – er wusste genau Bescheid über Sie. Er kannte Ihren Bungalow, Ihre Art, Abmachungen mit Ihren Bediensteten zu treffen, und er wusste auch, dass Sie diesen Nachmittag in Ranelagh waren. – Mrs Revel, haben Sie Feinde?»
    «Nein – jedenfalls nicht Feinde dieser Art!»
    «Es fragt sich nun, was wir tun wollen. Zwei Wege stehen uns offen. A: Wir rufen die Polizei an, erklären den ganzen Fall und vertrauen im Übrigen auf Ihren guten Ruf. B: Ich versuche den Toten aus Ihrem Haus zu schaffen, sodass man Sie nicht mehr mit der Sache in Verbindung bringen kann. Ich persönlich neige natürlich Vorschlag B zu. Aber alles in allem genommen ist Vorschlag A wohl vernünftiger. Dabei müssten wir allerdings ein paar Kleinigkeiten verheimlichen: Von der Pistole dürfte nichts zu sehen sein, und die Briefe müssten verschwinden – das heißt, wenn sie sich überhaupt noch bei dem Toten befinden.»
    Anthony durchsuchte rasch die Taschen des toten Giuseppe.
    «Er ist völlig ausgeplündert worden», bemerkte er. «Nicht das Geringste in seinen Taschen. Diese Briefe können uns noch in eine nette Zwickmühle bringen. Hallo, was ist das? Ein Loch im Futter – da war etwas versteckt und wurde herausgerissen, wobei ein Fetzen zurückblieb.»
    Beim Sprechen zog er das Stückchen Papier hervor und brachte es näher zum Licht. Virginia

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