Die Memoiren des Grafen
mich zum nächsten Polizisten laufen!»
«Unsinn! Seien Sie doch vernünftig, Elise. Packen Sie rasch meine Sachen zusammen für Chimneys. Das neue Abendkleid von Cailleux, das weiße Seidenkleid und – ja, das schwarze Samtkleid. Samt wirkt immer formell, nicht wahr?»
«Madame würden aber so bezaubernd aussehen in dem nilgrünen Satin», schlug Elise vor.
«Nein, das Nilgrüne nicht. Machen Sie rasch, Elise, wir haben wenig Zeit. Ich schicke inzwischen ein Telegramm an Chilvers, und beim Fortgehen bitte ich den Polizisten, ein Auge auf das Haus zu haben.»
Virginia ging ins Arbeitszimmer, wo sich das Telefon befand. Elises Vorschlag, die Polizei anzurufen, erschien ihr doch richtig, und sie wollte ihn unverzüglich ausführen.
Sie öffnete die Tür des Arbeitszimmers und ging zum Telefon. Die Hand am Hörer, hielt sie plötzlich inne. Ein Mann saß in ihrem breiten Lehnstuhl, merkwürdig zusammengesunken. Die verblüffende Meldung Elises hatte sie ihren erwarteten Besuch ganz vergessen lassen. Anscheinend war er eingeschlafen, während er auf sie wartete.
Sie näherte sich dem Stuhl mit einem spöttischen Lächeln.
Doch plötzlich verschwand das Lächeln von ihren Lippen.
Der Mann schlief nicht – er war tot!
Sie wusste es instinktiv, noch ehe sie die kleine Pistole am Boden bemerkte, das runde Einschussloch über dem Herzen und die verzerrten Züge.
Sie stand wie erstarrt da, die Hände an die Seiten gepresst.
«Madame! Madame!»
«Was gibt es denn?»
Sie ging eilends zur Tür. Ihr einziger Gedanke war, das Geschehene vor Elise geheim zu halten – so lange wenigstens, bis sie sich selbst etwas gefasst hatte.
«Madame, wäre es nicht besser, wenn ich die Kette vor die Tür legte?»
«Meinetwegen – machen Sie, was Sie wollen.»
Von dem Mann im Sessel ging ihr Blick zum Telefon. Ihr Weg war klar vorgezeichnet: Sie musste sofort die Polizei anrufen.
Und dennoch zögerte sie. Wieder stand sie starr vor Entsetzen, während ihre Gedanken rasten. Das gefälschte Telegramm! Hatte es damit etwas zu tun? Wenn nun auch Elise fortgegangen wäre? Sie hätte die Tür selbst öffnen müssen – vorausgesetzt, sie hätte die Schlüssel nicht vergessen. Dann hätte sie sich allein im Hause befunden, mit einem ermordeten Mann, dem gleichen Mann, der sie vor kurzem erpresst hatte. Natürlich hätte sie eine Erklärung dafür gehabt, aber ihr war nicht wohl bei diesem Gedanken. Sie erinnerte sich deutlich, wie ungläubig George ausgesehen hatte. Würde die Polizei nicht auch an ihren Worten zweifeln? Diese Briefe – natürlich hatte sie sie nicht geschrieben, aber wie wollte sie das beweisen?
Sie drückte ihre Hände fest an die Stirn.
«Ich muss nachdenken – ich muss überlegen.»
Wer hatte den Menschen hereingelassen? Sicherlich nicht Elise. Die hätte ihr sofort davon berichtet. Das Ganze schien immer geheimnisvoller. Sie konnte wirklich nichts anderes tun, als die Polizei herbitten.
Schon streckte sie ihre Hand aus – und plötzlich dachte sie an George. Ein Mann – das war’s, was sie brauchte, einen ausgeglichenen, ruhigen Mann mit klarem Blick, der ihr raten konnte. Ihr Gesicht wurde weicher. Bill, natürlich! Ohne weiter zu überlegen, wählte sie seine Nummer.
Man teilte ihr mit, dass er nach Chimneys abgereist sei.
«Verflixt», rief Virginia aus und warf den Hörer mit einem Knall auf die Gabel. Es war entsetzlich, mit einem toten Mann im Zimmer zu sein und keinen Menschen zu haben, der einem raten konnte.
Und in diesem Moment läutete es an der Eingangstür. Virginia fuhr auf. Gleich darauf läutete es noch einmal. Elise war im oberen Stockwerk beim Packen und hörte wahrscheinlich nichts.
Virginia ging in die Halle, zog die Kette zurück und öffnete alle Riegel, die Elise in ihrem Eifer vorgeschoben hatte. Mit einem tiefen Atemzug stieß sie die Tür auf. Auf der obersten Stufe stand der junge Arbeitslose.
Ihre überreizten Nerven machten Virginia kopflos vor Erleichterung.
«Kommen Sie herein», sagte sie. «Kommen Sie – ich habe vielleicht eine Aufgabe für Sie.»
Sie zog ihn ins Speisezimmer, schob ihm einen Stuhl hin, setzte sich ihm gegenüber und betrachtete sein Gesicht genau.
«Entschuldigen Sie», stotterte sie. «Aber sind Sie – ich meine – haben Sie –»
«Ich habe in Eton und Oxford studiert», lächelte der junge Mann. «Das war es doch, was Sie fragen wollten, nicht wahr?»
«So ungefähr», gab Virginia zu.
«Durch eigene Schuld so heruntergekommen, weil
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