Die Memoiren des Grafen
Virginia.
«Nichts. Es hat keinen Sinn, noch länger zu spähen. Wir sehen zu wenig. Ich muss rein und sie direkt angreifen.»
Er zog seine Stiefel an und stand auf.
«Hören Sie gut zu, Virginia. Wir öffnen die Tür so leise wie möglich – wissen Sie, wo der Lichtschalter ist?»
«Ja, direkt neben der Tür.»
«Ich glaube nicht, dass es mehr als zwei sind – vielleicht auch nur einer. Es sollte mir gelingen, ungesehen ins Zimmer zu kommen. Wenn ich rufe ‹Los!›, dann drehen Sie das Licht an. Ist das klar?»
«Selbstverständlich.»
«Schreien Sie bloß nicht, und werden Sie nicht ohnmächtig. Ich sorge schon dafür, dass Ihnen nichts geschieht.»
«Mein Held», flüsterte Virginia.
Bill warf ihr in der Dunkelheit einen misstrauischen Blick zu. Sein Schüreisen fester packend, machte er einen Schritt in Richtung Tür. Er fühlte sich der Situation völlig gewachsen.
Sehr sachte drehte er den Knauf, und die Tür öffnete sich leise. Bill fühlte, dass Virginia dicht neben ihm stand, und gemeinsam betraten sie geräuschlos den Raum.
Am entferntesten Ende der Seitenwand spielte das Licht auf dem Holbein-Gemälde. Sie erblickten die Silhouette eines Mannes, der auf einem Stuhl stand und leise die Wand abklopfte. Er drehte ihnen den Rücken zu.
Weiter sahen sie nichts, denn in diesem Moment knirschten die Nägel von Bills Stiefeln auf dem Parkett. Der Mann schwang herum, richtete den vollen Lichtstrahl auf Bill und Virginia und blendete sie durch die plötzliche Helle.
Bill zögerte nicht.
«Los», rief er und sprang auf seinen Gegner zu, während Virginia gehorsam den Lichtschalter betätigte.
Der große Leuchter hätte das ganze Zimmer in Licht tauchen sollen, aber nichts dergleichen geschah. Man hörte nur das Knipsen des Schalters, aber der Raum blieb dunkel.
Virginia hörte Bill kräftig fluchen. Im nächsten Augenblick vernahm man nur noch das Geräusch eines Handgemenges und keuchendes Atmen. Die Taschenlampe war zu Boden gefallen und verloschen. Die Kämpfenden konnte man nicht sehen, noch ließ sich erkennen, ob sich noch ein weiterer Mensch im Zimmer befand.
Virginia stand wie erstarrt und wusste nicht, was tun. Sie wagte nicht, in den Kampf einzugreifen, denn das hätte Bill vielleicht mehr geschadet als genützt. Sie konnte nur an der Tür stehen bleiben, damit niemand den Raum auf diesem Weg verließ. Gleichzeitig aber handelte sie gegen Bills Instruktionen, indem sie laut und wiederholt um Hilfe schrie.
Sie hörte das Öffnen von Türen, und plötzlich erstrahlte das Treppenhaus wie auch die Halle in hellem Licht. Wenn Bill nur seinen Mann so lange festhalten konnte, bis Hilfe kam?
Doch da ertönte ein schreckliches Gepolter. Die Kämpfenden mussten an eine der Rüstungen gestoßen sein, denn sie stürzte mit fürchterlichem Lärm zu Boden. Undeutlich erblickte Virginia eine Gestalt, die zur Balkontür rannte, und gleichzeitig hörte sie, wie Bill sich fluchend von der auf ihm liegenden Rüstung befreite.
Zum ersten Mal verließ Virginia ihren Posten an der Tür und lief auf den Schatten los. Aber die Balkontüre hatte sich bereits geöffnet, und der Einbrecher raste über die Terrasse und um die Ecke des Hauses. Virginia rannte ihm nach. Sie war jung und leichtfüßig und erreichte die Ecke der Terrasse kaum eine Sekunde nach dem Flüchtenden.
Aber hier lief sie geradewegs in die Arme eines Mannes, der von der kleinen Seitentür herkam. Es war Mr Hiram Fish.
«Guter Gott – eine Frau!», rief er aus. «Verzeihung, Mrs Revel. Ich hielt Sie für einen Einbrecher.»
«Er ist hier vorbeigerannt», rief Virginia atemlos. «Können wir ihn nicht mehr erwischen?»
Aber im gleichen Moment wusste sie auch schon, dass es zu spät war. Der Mann musste inzwischen den Park erreicht haben, und die Nacht war dunkel und ohne Mondschein. Sie kehrte um und ging zum Ratssaal zurück. Mr Fish blieb an ihrer Seite.
Lord Caterham, Bundle und einige erschrockene Bedienstete standen auf der Schwelle des Ratssaals.
«Was zum Kuckuck ist hier los?», fragte Bundle. «Ist eingebrochen worden? Oder machst du mit Mr Fish einen Mitternachtsspaziergang?»
Virginia schilderte die Geschehnisse der Nacht.
«Wie schrecklich aufregend!», rief Bundle aus. «Im Allgemeinen erlebt man nicht einen Mord und einen Einbruch während eines einzigen kurzen Wochenendes. Was ist mit dem Licht hier geschehen? Alle anderen Lampen brennen.»
Dieses Rätsel war bald gelöst. Die Birnen waren einfach herausgeschraubt und
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