Die Memoiren des Grafen
befindet sich der Herr zurzeit?», fragte Anthony weiter, während er sich abwandte und eine Zigarette ansteckte. «Erzählen Sie mir nicht, dass Sie es nicht wissen.»
«Wir haben Ursache anzunehmen, dass er sich in Amerika aufhält. Jedenfalls soll er bis vor kurzem dort gewesen sein. Nahm Gelder auf für seine Zukunftspläne.»
Anthony stieß einen erstaunten Pfiff aus.
«So ist das also», sagte er. «Michael wurde von England unterstützt, Nikolaus von Amerika. In beiden Ländern ist die Hochfinanz sehr interessiert daran, die Ölkonzessionen zu erhalten. Die Loyalisten traten für Michael ein – und jetzt sind sie herrenlos. Zähneknirschen bei den Herren Isaacstein & Co. Jubel in Wallstreet.»
«Sie haben ziemlich genau ins Schwarze getroffen.»
«Internationale Politik ist sehr fesselnd», grinste Anthony, «aber ich muss Sie leider verlassen. Habe eine Verabredung im Schulzimmer.»
Er ging mit langen Schritten dem Hause zu. Tredwell wies ihm den Weg zum Schulraum. Er klopfte, trat ein und wurde mit wildem Hurra begrüßt. Dolly und Daisy stürmten auf ihn los und zogen ihn im Triumph zu ihrer Erzieherin.
Zum ersten Mal fühlte Anthony Zweifel in sich aufsteigen. Mademoiselle Brun erwies sich als kleine, ältliche Person mit farblosem Gesicht, grau gesprenkeltem Haar und sprossendem Schnurrbart. Wie eine notorische Abenteuerin sah sie nun wirklich nicht aus.
Mir scheint, sagte sich Anthony, ich mache mich im höchsten Grade lächerlich. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurück.
Er benahm sich äußerst liebenswürdig Mademoiselle gegenüber, diese war augenscheinlich entzückt, dass ein gut aussehender junger Mann in ihr Schulzimmer eindrang. Der Nachmittagstee verlief sehr gemütlich.
Aber abends, allein in seinem prunkvollen Zimmer, schüttelte Anthony mehrmals enttäuscht den Kopf.
Ich mache einen Fehler, sagte er sich, zum zweiten Mal mache ich einen groben Fehler. Diese Sache hat weder Hand noch Fuß. Plötzlich hielt er in seinem Dauerlauf durch das Zimmer inne.
«Was zum Teufel –», begann er.
Die Tür hatte sich sachte geöffnet, und gleich darauf schlüpfte ein großer Mann ins Zimmer und blieb ehrerbietig stehen. Es war ein blonder Bursche mit hochstehenden Backenknochen und den träumerischen Augen eines Fanatikers.
«Wer zum Kuckuck sind Sie?», fragte Anthony und starrte ihn an.
Der Mann antwortete in perfektem Englisch.
«Ich heiße Boris Anchoukoff.»
«Der Diener von Fürst Michael?»
«So ist es. Ich habe meinem Herrn gedient. Er ist tot. Jetzt sind Sie mein Herr.»
«Das ist sehr nett von Ihnen – aber ich benötige keinen Diener», erklärte Anthony.
«Sie sind mein Herr. Ich werde Ihnen treu sein.»
«Ja – aber – sehen Sie, ich kann mir keinen Diener leisten.»
Boris Anchoukoff blickte ihn gekränkt an.
«Ich verlange kein Geld. Ich werde Ihnen dienen – bis zum Tod.»
Rasch näherte er sich Anthony, fiel auf ein Knie nieder, fasste Anthonys Hand und führte sie an seine Stirn. Dann stand er wieder auf und verließ den Raum so lautlos, wie er gekommen war.
Anthony starrte verblüfft hinter ihm her.
«Das ist verdammt komisch», murmelte er. «Ein treuer Hund.
Einen merkwürdigen Instinkt haben diese Kerle.»
Aber trotzdem ist es peinlich – verdammt peinlich, gerade jetzt.
17
D ie Leichenschau fand am folgenden Morgen statt. Inspektor Battle und der Leichenbeschauer hatten mit Unterstützung des Polizeichefs das Verfahren so weit verkürzt wie nur irgend möglich.
Gleich nach der Leichenschau verschwand Anthony unauffällig. Seine Abreise war der einzige Lichtblick des Tages für Bill Eversleigh. George Lomax hatte sich in den Gedanken verrannt, dass immer noch peinliche Gerüchte entstehen könnten, und war deshalb sehr ermüdend gewesen. Miss Oscar und Bill mussten unentwegt zu seiner Verfügung stehen. Als er sich endlich am Samstagabend zurückziehen konnte, war er völlig erledigt. Den ganzen Tag hatte er Virginia nicht gesehen, und er fühlte sich gekränkt und missbraucht. Gott sei Dank hatte sich wenigstens dieser Kerl aus den Kolonien verflüchtigt, der Virginias Gesellschaft viel zu häufig beansprucht hatte. Bill fühlte tiefes Bedauern mit sich selbst, als er einschlief. Doch im Traum wurde ihm Trost gewährt, denn er träumte von Virginia. Ein großer Autobus fuhr vor, und Virginia entstieg ihm am Arm des kahlköpfigen Barons. Sie trat auf Bill zu und schüttelte ihn am Arm. «Bill», rief sie, «o Bill!» Sie schüttelte ihn
Weitere Kostenlose Bücher