Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
daß es für einen Mann seiner Art in einem stillen Landbezirk nicht sehr schwierig ist, diese Rolle zu spielen.
Solange er verheiratet war, ging alles gut, aber seit er Witwer geworden war, kamen wir aus dem Ärger mit ihm nicht mehr heraus. Vor einigen Monaten konnten wir dann die Hoffnung hegen, daß er wieder zur Ruhe kommen würde, denn er verlobte sich mit Rachel Howells, unserem zweiten Hausmädchen, aber dann hat er sie sitzenlassen und Beziehungen zu Janet Tregellis, der Tochter des obersten Wildhüters, angeknüpft. Rachel ist ein sehr gutes Mädchen, aber von leicht erregbarem, wildem walisischem Temperament; sie wurde von einem heftigen Nervenfieber befallen, und nun geht sie umher – oder vielmehr: ging sie bis gestern umher – wie ein hohläugiger Schatten ihres früheren Selbst. Das war unser erstes Drama in Hurlstone; aber ein zweites kam, um das erste aus unseren Gemütern zu vertreiben, und es wurde eingeleitet von der Schande und der Entlassung des Butlers Brunton.
Es passierte folgendes. Ich sagte, daß der Mann intelligent ist, und diese hervorragende Intelligenz hat seinen Ruin verursacht, denn es scheint, sie hat ihn zu einer unersättlichen Wißbegier über Dinge verleitet, die ihn überhaupt nichts angehen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es ihn treiben würde, bis mir der reine Zufall die Augen öffnete.
Ich sagte bereits, das Haus ist sehr groß. Eines Nachts in der letzten Woche – Donnerstagnacht, um genauer zu sein – konnte ich nicht einschlafen, weil ich dummerweise nach dem Dinner eine Tasse starken schwarzen Kaffee getrunken hatte. Nachdem ich bis etwa zwei Uhr morgens gegen die Schlaflosigkeit angekämpft hatte, merkte ich, daß es ganz hoffnungslos war; so stand ich auf und zündete eine Kerze an in der Absicht, einen angefangenen Roman weiterzulesen. Das Buch war jedoch im Billardzimmer liegengeblieben, also zog ich meinen Schlafrock an und ging, es zu holen. Um zum Billardzimmer zu gelangen, mußte ich eine Treppe hinabsteigen und dann an der Einmündung eines Korridors vorübergehen, der zur Bibliothek und zur Gewehrkammer führt. Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich einen Blick in diesen Korridor warf und einen Lichtschein bemerkte, der aus der offenen Tür zur Bibliothek fiel. Ich selber hatte die Lampe gelöscht und die Tür geschlossen, bevor ich zu Bett ging. Natürlich dachte ich sogleich an Einbrecher. Die Korridorwände in Hurlstone sind üppig mit alten Waffen behangen. Ich nahm eine Streitaxt herunter, stellte mein Licht beiseite, schlich auf Zehenspitzen den Gang hinunter und spähte vorsichtig durch die Tür.
Brunton, der Butler, war in der Bibliothek. Er saß vollständig angekleidet in einem Lehnstuhl, auf dem Knie ein Blatt, das eine Karte zu sein schien, den Kopf gedankenversunken in die Hand gestützt. Ich stand stumm vor Staunen und beobachtete ihn aus dem Dunkeln. Eine kleine Kerze am Rande des Tischs gab ein schwaches Licht, das aber genügte, mir zu zeigen, daß er vollständig angezogen war. Plötzlich erhob er sich von seinem Stuhl, trat zu einem an der Wand stehenden Schreibtisch, schloß ihn auf und zog eine der Schubladen heraus. Er entnahm ihr ein Papier, und nachdem er an seinen Platz zurückgekehrt war, breitete er es neben der Kerze auf dem Tisch aus und begann, es peinlich genau zu studieren. Mein Unwille über dieses seelenruhige Schnüffeln in unseren Familiendokumenten packte mich so heftig, daß ich einen Schritt vor tat und der auf blickende Brunton mich in der Tür stehen sah. Er sprang auf, sein Gesicht wurde vor Schreck totenblaß, und er schob das kartenähnliche Blatt, das er zuerst durchgesehen hatte, unter die Jacke.
‚So!’ sagte ich, ‚auf diese Weise vergelten Sie das Vertrauen, das wir in Sie setzten! Sie werden meinen Dienst morgen verlassen.’
Er krümmte sich und sah mich an wie einer, der gänzlich vernichtet ist, und schlich ohne ein Wort zu sagen an mir vorüber. Die Kerze stand noch auf dem Tisch, und in ihrem Licht schaute ich nach, was das für ein Papier war, das Brunton aus dem Schreibtisch genommen hatte. Zu meinem Erstaunen war es nichts von irgendwelcher Bedeutung, sondern einfach eine Abschrift der Fragen und Antworten aus einem merkwürdigen alten Regelwerk, das Ritual der Musgraves genannt. In unserer Familie gibt es einen feierlichen Brauch, dem sich jeder Musgrave seit Jahrhunderten am Tag seiner Volljährigkeit unterziehen muß – etwas, das nur uns
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