Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
stoßen. Es war mir unvorstellbar, daß er fortgegangen sein und sein Eigentum dagelassen haben sollte. Und dennoch: Wo konnte er stecken? Ich wandte mich an die örtliche Polizei, aber es brachte keinen Erfolg. In der Nacht war Regen gefallen, und wir untersuchten die Wiese und alle Fußwege rund um das Haus; vergebens. So standen die Dinge, als ein neues Geschehnis unsere Aufmerksamkeit von dem ersten Rätsel ablenkte.
Zwei Tage lang war Rachel Howells sehr krank gewesen, Fieberphantasien wechselten mit hysterischen Ausbrüchen, so daß eine Krankenschwester angestellt werden mußte, nachts bei ihr zu wachen. In der dritten Nacht nach Bruntons Verschwinden war die Schwester, in der Meinung, ihre Patientin schlafe, in ihrem Lehnsessel eingenickt. Als sie am frühen Morgen aufwachte, fand sie das Bett leer, das Fenster offen und von der Kranken keine Spur. Ich war gerade aufgestanden und ging mit zwei Dienstmännern sofort daran, das vermißte Mädchen zu suchen. Es war nicht schwierig, die Richtung festzustellen, die sie eingeschlagen hatte, denn da wir mit der Suche unter dem Fenster anfingen, konnten wir ihren Fußabdrücken über die Wiese bis zum Ufer des Teiches folgen, aber dort hörten sie auf, dicht bei dem Kiesweg, der aus dem Grundstück hinausführt. Der Teich ist dort acht Fuß tief, und Sie können sich unsere Empfindungen vorstellen, als wir sahen, daß die Spur des armen geistesverwirrten Mädchens hier endete.
Natürlich warfen wir sofort Schleppnetze aus, um die sterblichen Überreste heraufzubringen; aber wir fanden den Körper nicht. Statt dessen förderten wir einen Gegenstand zutage, mit dem wir ganz und gar nicht gerechnet hatten. Es war ein Leinensack, der einen mit altem Rost bedeckten und total verfärbten Metallklumpen enthielt sowie mehrere trübe Steine oder Glasstücke. Dieser seltsame Fund war alles, was wir aus dem Teich herausholen konnten, und obwohl wir ge stern an jedem nur möglichen Ort gesucht und nachgefragt haben, wissen wir weder etwas über das Schicksal von Rachel Howells noch von Richard Brunton. Die Polizei der County ist mit ihrer Weisheit am Ende, und nun bin ich zu Ihnen gekommen, Sie sind meine letzte Hoffnung!‹
Sie können sich vorstellen, Watson, mit welcher Begierde ich dieser außergewöhnlichen Folge von Ereignissen gelauscht und wie ich mich bemüht habe, die Stücke zusammenzufügen und den Faden zu finden, an dem sie vielleicht alle hingen.
Der Butler war fort. Das Mädchen war fort. Das Mädchen hatte den Butler geliebt, bekam danach aber Grund, ihn zu hassen. Sie war von walisischem Blut, feurig und leidenschaftlich, und war fürchterlich erregt nach seinem Verschwinden. Sie hatte einen Sack mit sonderbarem Inhalt in den Teich geworfen. Dies alles waren Faktoren, die in Erwägung gezogen werden mußten, und dennoch führte keiner davon zum Kern der Sache. Wo war der Anfang dieser Kette von Ereignissen? Vor uns lag das Ende des verworrenen Fadens.
›Ich muß das Papier sehen, Musgrave‹ sagte ich, ›das Ihr Butler des Studierens wert hielt, selbst auf die Gefahr hin, seine Stellung zu verlieren.‹
›Es ist ein ziemlich abwegiges Ding, unser Rituals antwortete er, ›aber wenigstens hat es die Würde des Alters für sich. Ich habe eine Abschrift der Fragen und Antworten bei mir, wenn Sie ein Auge darauf werfen wollen.‹
Er gab mir dieses Papier hier, Watson: Eben das ist der seltsame Katechismus, den jeder Musgrave anzuerkennen hatte, wenn er volljährig wurde. Ich lese Ihnen die Fragen und Antworten vor, wie sie hier stehen:
Wem gehört es?
Dem, der dahingegangen ist.
Wer soll es haben?
Der, der da kommen wird.
Welches war der Monat?
Der sechste vom ersten.
Wo stand die Sonne?
Über der Eiche.
Wo lag der Schatten?
Unter der Ulme.
Wie wurde ausgeschritten?
Norden zehn zu zehn, Osten fünf zu fünf,
Süden zwei zu zwei, Westen eins zu eins,
und so hinunter.
Was sollen wir dafür geben?
All das Unsere.
Warum sollen wir es geben?
Um des Vertrauens willen.
›Das Original trägt kein Datum, aber es wurde der Schreibweise nach um die Mitte des 17. Jahrhunderts verfaßt‹, bemerkte Musgrave. ›Ich fürchte, es wird Ihnen kaum helfen, das Geheimnis um das Verschwinden der beiden zu enträtseln.‹
›Wenigstens‹, sagte ich, ›enthält das Papier ein anderes Geheimnis, eines, das anziehender ist als das erste. Vielleicht stellt sich die Lösung des einen als die Lösung des anderen heraus. Erlauben
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