Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
zuzustimmen«, sagte der Inspektor. »Vielleicht ist es eine Folge seiner Krankheit, aber mir scheint doch…«
Seine Rede unterbrach ein plötzlicher Schrei: »Hilfe, Hilfe! Mord!« Mit Schaudern erkannte ich die Stimme meines Freundes. Wie von Sinnen lief ich aus dem Zimmer zum Treppenpodest. Die in ein heiseres, unverständliches Krächzen übergehenden Schreie drangen aus dem Zimmer, das wir zuerst besichtigt hatten. Ich stürzte hinein und weiter in die Ankleidekammer. Die beiden Cunninghams standen über die am Boden liegende Gestalt Sherlock Holmes’ gebeugt. Der jüngere hatte meinen Freund mit beiden Händen am Hals gepackt, während der ältere dabei war, ihm das Handgelenk umzudrehen. In Sekundenschnelle rissen wir die zwei von ihrem Opfer weg, und Holmes erhob sich schwankend, sehr bleich und offensichtlich höchst erschöpft.
»Verhaften Sie diese Männer, Inspektor!« sagte er, völlig außer Atem.
»Unter welcher Beschuldigung?«
»Unter der des Mordes an ihrem Kutscher William Kirwan!«
Der Inspektor blickte bestürzt um sich. »Aber nicht doch, Mr. Holmes«, sagte er schließlich. »Sie können doch nicht im Ernst annehmen…«
»Genug jetzt! Sehen Sie sich doch nur ihre Gesichter an!« rief Holmes barsch.
Nie habe ich ein klareres Schuldbekenntnis von menschlichen Gesichtern abgelesen. Der alte Mann schien ganz benommen, und auf seinen markanten Zügen hatte sich ein Ausdruck von Müdigkeit und Verdrossenheit breitgemacht. Der Sohn hatte alles Kecke und Schneidige fahrenlassen, aus den dunklen Augen schimmerte die Wut eines gefährlichen wilden Tieres und verzerrte sein hübsches Gesicht. Der Inspektor sagte nichts, trat nur zur Tür und ließ seine Pfeife ertönen. Auf das Signal hin kamen zwei seiner Konstabler. »Mir bleibt nichts anderes übrig, Mr. Cunningham«, sagte er. »Ich bin davon überzeugt, daß sich alles als ein absurdes Mißverständnis herausstellen wird; aber Sie müssen einsehen… Was soll das? Lassen Sie sofort die Waffe fallen!«
Er schlug zu, und der Revolver, den der junge Mann gerade spannte, fiel polternd zu Boden.
»Sichern Sie ihn«, sagte Holmes und stellte schnell den Fuß auf die Waffe. »Vor Gericht wird er sehr nützlich sein. Aber das hier wollten wir vor allem.« Er hielt ein zerknittertes kleines Stück Papier hoch.
»Der Rest des Blattes?« rief der Inspektor.
»Genau.«
»Und wo war er?«
»Wo er sein mußte. Ich werde Ihnen die Geschichte gleich erklären. Ich glaube, Colonel, daß Sie und Watson jetzt in Ihr Haus zurückkehren sollten. In spätestens einer Stunde bin ich bei Ihnen. Der Inspektor und ich müssen erst noch mit den Gefangenen reden. Aber zum Lunch werde ich sicher bei Ihnen sein.«
Sherlock Holmes hielt Wort, und gegen ein Uhr saßen wir im Rauchsalon des Colonels beisammen. Er hatte einen älteren kleinen Herrn mitgebracht, der mir als der Mr. Acton vorgestellt wurde, dessen Haus der eigentliche Einbruch gegolten hatte.
»Ich wollte, daß Mr. Acton dabei ist, wenn ich Ihnen die kleine Angelegenheit auseinandersetze«, sagte Holmes, »denn es ist nur natürlich, daß er den Einzelheiten das äußerste Interesse entgegenbringt. Ich fürchte, mein lieber Colonel, Sie bereuen die Stunde, da Sie einen Sturmvogel wie mich zu sich eingeladen haben.«
»Im Gegenteil«, antwortete der Colonel enthusiastisch. »Ich betrachte es als den größten Vorzug, Zeuge Ihrer Arbeitsmethode sein zu dürfen. Ich gestehe, Sie übertreffen meine Erwartungen bei weitem, und ich kann mir Ihr Ergebnis ganz und gar nicht erklären. Bis jetzt sehe ich nicht den Schatten einer Spur.«
»Ich fürchte, meine Darlegungen werden Sie desillusionieren, aber ich habe nie einen Hehl aus meinen Methoden gemacht, gegenüber meinem Freund Watson nicht und vor überhaupt nieman dem, der ein ernsthaftes Interesse an ihnen hat. Aber zuerst möchte ich einen Schluck von Ihrem Kognak nehmen, da ich doch noch ziemlich wacklig auf den Beinen bin nach dem Tiefschlag in dem Ankleidezimmer. In den letzten Wochen ist meinen Kräften ziemlich viel zugemutet worden.«
»Ich hoffe, Sie hatten nicht wieder einen Nervenanfall.«
Sherlock Holmes lachte von Herzen. »Darauf kommen wir noch, wenn es an der Zeit ist«, sagte er. »Ich werde Ihnen den Fall in seiner richtigen Abfolge erläutern und Ihnen die verschiedenen Punkte aufzeigen, die mich bei meiner Entscheidung geleitet haben. Unterbrechen Sie mich
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