Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
bitte, wenn es irgend etwas gibt, das Ihnen nicht völlig klar ist.
In der Kunst der Aufklärung ist es von höchster Wichtigkeit, die Zufälle von den wesentlichen Fakten zu trennen. Sonst wird Ihre Kraft und Aufmerksamkeit verzettelt anstatt konzentriert. Nun, in diesem Fall hatte ich nicht den leisesten Zweifel daran, daß das Stückchen Papier, das der Sterbende in der Hand gehalten hatte, den Schlüssel des Ganzen darstellte.
Ehe ich näher darauf eingehe, möchte ich Ihren Blick auf die Tatsache lenken, daß, wenn Alec Cunninghams Erzählung stimmte, der Mörder, nachdem er William Kirwan erschossen hatte, so fort die Flucht ergriff und er also nicht derjenige sein konnte, der das Papier dem Toten aus der Hand gerissen hat. Aber wenn der Mörder es nicht war, mußte es Alec Cunningham gewesen sein; denn zu dem Zeitpunkt, als auch der alte Mann dazukam, waren schon mehrere Diener auf dem Schauplatz versammelt. Das ist ein simpler Umstand, aber der Inspektor hat ihn übersehen, weil er von dem vorgefaßten Urteil ausging, daß die Gutsbesitzer mit der Sache nichts zu schaffen hatten. Nun, ich hege keine Vorurteile und lasse mich unvoreingenommen von den Tatsachen führen. So war mir denn auch im ersten Stadium der Untersuchung die Rolle, die Mr. Alec Cunningham spielte, ein wenig verdächtig.
Daraufhin untersuchte ich den Papierschnipsel, den der Inspektor uns überlassen hatte, sehr gründlich. Mir war sofort klar, daß es sich um einen Teil eines äußerst bemerkenswerten Dokuments handeln mußte. Hier ist es. Fällt Ihnen nicht daran etwas ganz Besonderes auf?«
»Die Unregelmäßigkeit der Schrift«, sagte der Colonel.
»Mein lieber Herr«, rief Holmes, »es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, daß es von zwei Personen geschrieben wurde, die abwechselnd jeweils ein Wort zu Papier brachten. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit auf die starken Grundstriche in den Wörtern ›um‹ und ›erfahren‹ lenken und Sie bitten darf, sie mit den schwachen in ›Viertel‹ und ›zwölf‹ zu vergleichen, werden Sie die Stichhaltigkeit meiner Behauptung sogleich erkennen. Eine flüchtige Analyse dieser wenigen Worte versetzt Sie in die Lage, mit Sicherheit sagen zu können, ›um‹, ›vor‹ und ›erfahren‹ sind von einer energischen Hand und ›Viertel‹ und ›zwölf‹, ›Sie‹ und ›vielleicht‹ von einer schwächeren Hand geschrieben worden.«
»Bei Gott, das ist so klar wie nur etwas!« rief der Colonel. »Aber warum sollten zwei Leute auf diese Weise einen Brief schreiben?«
»Allem Anschein nach handelte es sich um eine faule Sache, und einer der Männer, der dem anderen mißtraute, hatte beschlossen, daß an allem, was geschehen würde, sie beide gleichermaßen Anteil haben müßten. Nun, es wird weiter klar, daß der Mann, der ›um‹ und ›erfahren‹ geschrieben hat, der Anführer sein mußte.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Wir könnten es einfach aus einem Handschriftenvergleich schließen. Aber es gibt gewichtigere Gründe als die, die aus solch einer Annahme hervorgehen. Wenn Sie den Papierfetzen aufmerksam untersuchen, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß zuerst der Mann mit der energischeren Handschrift alle seine Wörter geschrieben und jeweils Freiräume gelassen hat, die der andere dann ausfüllte. Die Lücken reichten nicht immer aus, so daß der zweite Mann sein ›Viertel‹ zwischen ›um‹ und ›vor‹ quetschen mußte, und das beweist: Die beiden anderen Wörter standen vorher da. Der Mann, der seine Wörter als erster schrieb, ist ohne Zweifel derjenige, der die Sache geplant hat.«
»Ausgezeichnet!« rief Mr. Acton.
»Aber nicht tief genug«, sagte Holmes. »Wir kommen jetzt zu einem Punkt, der von Wichtigkeit ist. Vielleicht wissen Sie nicht, daß die Alters bestimmung eines Menschen aus seiner Handschrift zu bemerkenswerter Akribie gediehen ist. Im normalen Fall läßt sich die Dekade, in der jemand steht, mit einiger Sicherheit ermitteln. Ich sagte: im normalen Fall; denn Krankheit und körperliche Schwäche drücken sich wie Anzeichen von Alter aus, selbst wenn der Kranke noch jung ist. In unserem Fall aber, angesichts der kühnen, energischen Schrift des einen und der ziemlich krakeligen Schreibweise des anderen, die aber noch leserlich ist – auch wenn der Querstrich beim ›t‹ fehlt –, können wir sagen, daß der eine ein junger Mann sein muß und der andere ein schon in die Jahre gekommener, wenn auch nicht
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