Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
weder, wo ich gewesen bin, noch mit wem ich gesprochen habe; ich weiß überhaupt weiter nichts als das, was ich Ihnen erzählt habe. Aber ich weiß, daß ein übles Spiel im Gang ist, und ich möchte dem unglücklichen Mann helfen. Am nächsten Morgen habe ich Mr. Mycroft Holmes über alles berichtet und bin danach zur Polizei gegangen.«
Nachdem wir die Erzählung angehört hatten, saßen wir eine Weile schweigend da. Dann blickte Sherlock seinen Bruder an.
»Hast du irgend etwas eingeleitet?« fragte er.
Mycroft nahm ein Exemplar der ›Daily News‹ von einem Tischchen. ›»Wer Näheres über den Aufenthalt eines griechischen Herrn namens Paul Kratides aus Athen, der des Englischen nicht mächtig ist, mitteilen kann, erhält eine Beloh nung. Desgleichen, wer etwas über eine griechische Dame mit dem Vornamen Sophie weiß. – X 2473.‹ Das hat in allen Tageszeitungen gestanden. Keine Antworten.«
»Und was ist mit der griechischen Gesandtschaft?«
»Da habe ich nachgefragt. Man weiß nichts.«
»Dann müssen wir ein Telegramm an das Polizeipräsidium von Athen schicken!«
»Sherlock hat alle Energie der Familie geerbt«, sagte Mycroft zu mir. »Nun, jedenfalls wirst du den Fall aufnehmen. Laß mich wissen, wenn du Erfolg hast.«
»Bestimmt«, antwortete mein Freund und erhob sich. »Ich gebe dir Bescheid, auch Mr. Melas. In der Zwischenzeit, Mr. Melas, bliebe ich an Ihrer Stelle auf der Hut, denn sie wissen jetzt natürlich durch die Anzeige, daß Sie sie hintergangen haben.«
Auf dem Weg nach Hause gab Holmes in einem Telegraphenbüro verschiedene Depeschen auf.
»Sie sehen, Watson«, bemerkte er, »unser Abend war keineswegs verschwendet. An mehrere meiner interessantesten Fälle bin ich auf diese Weise über Mycroft gekommen. Das Problem, das uns soeben vorgetragen worden ist, zeichnet sich durch einige interessante Züge aus.«
»Glauben Sie, Sie werden es lösen können?«
»Nun, nach dem, was wir bereits wissen, wäre es in der Tat bemerkenswert, wenn wir nicht noch den Rest herausbekämen. Aber Sie müssen sich doch auch schon eine Erklärung für die gehörten Fakten zurechtgelegt haben.«
»Eine recht unbestimmte.«
»Und was denken Sie?«
»Mir scheint offensichtlich, daß dieses griechische Mädchen von dem jungen Engländer mit Namen Harold Latimer entführt worden ist.«
»Entführt? Von wo entführt?«
»Vielleicht aus Athen.«
Sherlock Holmes schüttelte den Kopf. »Dieser junge Mann kann nicht ein Wort griechisch. Die Dame spricht ganz gut englisch. Daraus ist zu schließen, daß sie seit einiger Zeit in England weilt, er aber nicht in Griechenland war.«
»Nun, dann nehmen wir an, daß sie auf einen Besuch nach England reiste und daß dieser Harold sie überredet hat, mit ihm zu fliehen.«
»Das ist wahrscheinlicher.«
»Dann kommt der Bruder – ich nehme an, so ist ihre Verwandtschaftsbeziehung – aus Griechenland und mischt sich ein. Er begibt sich unvorsichtig in die Gewalt des jungen Mannes und seines älteren Verbündeten. Die beiden versuchen, ihn mit Gewalt dazu zu bringen, ein Papier zu unterzeichnen, wodurch das Vermögen des Mädchens – dessen Treuhänder er vielleicht ist – an sie übergeht. Er weigert sich. Um mit ihm verhandeln zu können, müssen sie einen Dolmetscher besorgen, und sie verfallen auf Mr. Melas, nachdem sie es bereits mit einem anderen versucht haben. Das Mädchen weiß nichts von der Anwesenheit ihres Bruders und bekommt es durch puren Zufall heraus.«
»Ausgezeichnet, Watson!« rief Holmes. »Ich glaube, Sie sind nicht weit weg von der Wahrheit. Sie sehen, wir haben alle Trümpfe in der Hand und müssen nur einen plötzlichen Gewaltakt von der anderen Seite befürchten. Wenn sie uns Zeit lassen, können wir sie fassen.«
»Aber wie finden wir heraus, wo das Haus liegt?«
»Nun, wenn unsere Annahme stimmt und der Name des Mädchens Sophie Kratides ist oder war, dürfte es uns keine Schwierigkeiten bereiten, auf ihre Spur zu kommen. Darin vor allem steckt unsere Hoffnung, denn der Bruder ist natürlich absolut unbekannt. Es liegt auf der Hand, daß einige Zeit vergangen ist, seit dieser Harold das Mädchen an sich gebunden hat – auf jeden Fall sind es einige Wochen, da der Bruder in Griechenland erst davon erfahren mußte, ehe er herüberkam. Wenn sie während dieser Zeit in jenem Haus gewohnt haben, ist es wahrscheinlich, daß wir auf
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