Die Menschenleserin
seiner Frau und den Kindern zurückkehren. Was das Buch anging, würde er sein Bestes geben. Rebecca Sheffield hatte sich bei ihm gemeldet, und das Gespräch stand noch aus. Sie hatte sich über das Leben in Pells Familie viele Notizen gemacht und war bereit, sich nach Nagles Rückkehr mit ihm zu treffen. Außerdem war sie sicher, auch Linda Whitfield zu einem Interview überreden zu können. Und es gab gewiss genügend Opfer Daniel Pells, über die man schreiben konnte. Dennoch würde er sich wohl einen anderen Titel als Die Schlafpuppe überlegen müssen.
Dann schlief Morton Nagle ein, betrunken und mehr oder weniger zufrieden.
... Sechsunddreißig
Sie saßen vorgebeugt und im Halbkreis vor dem Fernseher und verfolgten die Nachrichten – wie drei wieder vereinigte Schwestern.
Was sie ja in gewisser Weise auch waren, dachte Samantha McCoy.
»Ist das zu glauben?«, fragte Rebecca mit leiser, zorniger Stimme.
Linda, die mit Sam die Reste des Abendessens abräumte, schüttelte bestürzt den Kopf.
Daniel Pell hatte einen Anschlag auf James Reynolds, den Staatsanwalt, verübt.
Sam war deswegen sehr beunruhigt. Sie konnte sich noch gut an Reynolds erinnern. Ein strenger, aber vernünftiger Mann, der ihnen – laut Aussage des Verteidigers – faire Verfahrensabsprachen angeboten hatte. Sam hatte ihn sogar für recht nachsichtig gehalten. Es gab keine Hinweise darauf, dass eine von ihnen mit den Croyton-Morden zu tun gehabt hatte – Sam und die anderen waren entsetzt und wie gelähmt gewesen, als sie von der Tat hörten. Aber die anderen Vergehen der Familie ergaben eine ziemlich lange Liste, und falls James Reynolds darauf aus gewesen wäre, hätte er auf einen Prozess bestehen und vor einer Jury vermutlich wesentlich längere Haftstrafen erzielen können.
Doch er hatte Mitleid mit ihnen; er erkannte, dass Daniel Pell sie in seinen Bann geschlagen hatte. Er nannte es das Stockholm-Syndrom. Sam hatte den Begriff im Lexikon nachgelesen. Er bezeichnete eine emotionale Bindung, die Opfer zu ihren Geiselnehmern oder Entführern aufbauen. Sam freute sich über Reynolds’ Milde, aber sie wollte es sich nicht so leicht machen, ihre Handlungen vor sich selbst mit irgendeiner psychologischen Ausrede zu rechtfertigen. Jeden Tag aufs Neue bereute sie die Diebstähle und die Tatsache, dass sie sich Pell widerstandslos ausgeliefert hatte. Man hatte sie nicht entführt; sie war freiwillig bei der Familie geblieben.
Im Fernsehen wurde ein Bild eingeblendet: eine Zeichnung von Pell mit dunklerer Haut und schwarzem Haar, einer Brille und dem ungefähren Aussehen eines Latinos. Seine Maskerade.
»Das ist doch wirklich bizarr«, sagte Rebecca.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie alle zusammenzucken. Kathryn Dance rief, sie sei wieder da. Linda stand auf, um sie hereinzulassen.
Samantha mochte sie – eine Polizistin mit einem bezaubernden Lächeln, die nicht nur eine Waffe, sondern auch einen iPod bei sich trug und deren Schuhriemen mit kecken Gänseblümchen verziert waren. Solche Schuhe hätte sie auch gern. Sam kaufte sich nur selten lustige oder frivole Dinge. Manchmal machte sie einen Schaufensterbummel und dachte: Prima, das gönne ich mir. Aber dann bekam sie ein schlechtes Gewissen und beschloss: Nein, das habe ich nicht verdient.
Winston Kellogg lächelte ebenfalls, wirkte dabei aber anders als Dance. Sein Lächeln schien etwas zu sein, das er wie seinen Dienstausweis benutzte; er ließ es aufblitzen und meinte damit: Ich bin in Wahrheit nicht der, für den Sie mich halten. Ich bin ein Bundesagent, aber ich bin auch ein Mensch. Er war sympathisch. Kellogg sah nicht im klassischen Sinn gut aus; er hatte ein leichtes Doppelkinn und etwas zu viel Bauch. Aber sein Verhalten, seine Stimme und seine Augen machten ihn sexy.
Dance warf einen Blick auf den Fernseher. »Sie haben es schon gehört?«
»Ich bin so froh, dass es ihm gut geht«, erklärte Linda. »War seine Familie auch dort?«
»Es ist niemandem etwas passiert.«
»In den Nachrichten hieß es, ein Deputy sei verletzt worden«, sagte Rebecca.
»Das war nichts Lebensgefährliches«, erwiderte Kellogg und erklärte, wie Pell und seine Komplizin den Mord geplant und am Vortag Susan Pemberton umgebracht hatten, um Reynolds’ Adresse herauszufinden.
Sam dachte daran, was damals so großen Eindruck auf sie gemacht hatte: der besessene, unaufhaltsam arbeitende Verstand Daniel Pells.
»Ich möchte Ihnen danken«, sagte Dance. »Die Informationen, die Sie uns
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