Die Menschenleserin
aufzutauchen. Pell stand in seiner Uniform gut sichtbar davor, wenngleich sein Gesicht wie zufällig nach unten gerichtet war.
»Ja? Wer ist da?«
»Mr. Reynolds, hier ist Officer Ramos.«
»Wer?«
»Ich bin die Wachablösung, Sir. Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
»Nur eine Sekunde. Ich hab was auf dem Herd.«
Pell griff nach der Pistole und freute sich darauf, dass ein gewaltiges Ärgernis nun endlich aus der Welt geschafft werden würde. Er fühlte sich plötzlich erregt und konnte es gar nicht abwarten, mit Jennie wieder ins Sea View zu fahren. Womöglich würden sie es gar nicht bis ins Motel schaffen. Er würde sie auf der Rückbank nehmen. Pell trat in den Schatten einer großen Kletterpflanze neben der Tür und genoss das Gefühl der schweren Pistole in seiner Hand. Eine Minute verging. Dann noch eine. Er klingelte erneut. »Mr. Reynolds?«
»Pell, keine Bewegung!«, rief eine Stimme. Sie kam von draußen, hinter ihm. »Lassen Sie die Pistole fallen.« Die Stimme war die von Reynolds. »Ich bin bewaffnet.«
Nein! Was war passiert? Pell zitterte vor Zorn. Er war so bestürzt und durcheinander, dass er sich beinahe übergeben hätte.
»Hören Sie, Pell. Falls Sie sich auch nur einen Zentimeter bewegen, werde ich schießen. Nehmen Sie die Pistole mit der linken Hand beim Lauf, und legen Sie sie hin. Sofort!«
»Was? Sir, was reden Sie da?«
Nein, nein! Er hatte das so perfekt geplant! Die Wut raubte ihm den Atem. Er warf einen Blick über die Schulter. Dort war Reynolds und hielt mit beiden Händen einen großen Revolver. Der Mann wusste, was er tat, und schien nicht im Mindesten nervös zu sein.
»Halt, warten Sie, Mr. Reynolds. Ich heiße Hector Ramos. Ich bin die Wachab…«
Er hörte das Klicken, als Reynolds den Hahn der Waffe spannte.
»Okay! Ich weiß zwar nicht, was das soll, aber okay. Herrje.« Pell nahm den Lauf mit der linken Hand, ging in die Knie und senkte die Waffe auf die Veranda.
Auf einmal schlitterte der schwarze Toyota in die Auffahrt und kam mit quietschenden Reifen und laut hupend zum Stehen.
Pell ließ sich flach auf den Bauch fallen, schwang die Waffe herum und fing an, in Reynolds’ Richtung zu feuern. Der Staatsanwalt duckte sich und gab selbst mehrere Schüsse ab, verfehlte jedoch vor Schreck sein Ziel. Dann hörte Pell in der Ferne Sirenen heulen. Hin-und hergerissen zwischen seinem Selbsterhaltungstrieb und dem unbedingten Wunsch, diesen Mann zu töten, zögerte er eine Sekunde. Aber sein Überleben war wichtiger. Er lief die Auffahrt hinunter zu Jennie, die die Beifahrertür für ihn geöffnet hatte.
Kaum saß er im Wagen, rasten sie auch schon davon. Pell verschaffte sich ein wenig Luft, indem er seine Waffe in Richtung des Hauses leer feuerte. Vielleicht würde er ja wenigstens einen Glückstreffer landen.
... Fünfunddreißig
Dance, Kellogg und James Reynolds standen auf dem feuchten Rasen des naturbelassenen Vorgartens, der vom pulsierenden Schein der bunten Signalleuchten erhellt wurde.
Der Staatsanwalt erklärte, seine vordringlichste Sorge habe der Frage gegolten, ob jemand von seinen oder Pells Kugeln getroffen worden sei. Um sich zu verteidigen, hatte er panisch drauflosgefeuert – er war immer noch ziemlich mitgenommen – und gleich darauf befürchtet, einer der Anwohner könne bei der Schießerei zu Schaden gekommen sein. Zunächst war er auf die Straße gerannt, um das Nummernschild von Pells Fluchtfahrzeug lesen zu können, aber bis dahin war der Wagen bereits außer Sichtweite gewesen. Anschließend hatte Reynolds die Nachbarhäuser überprüft. Zum Glück war niemand von einem verirrten Projektil verwundet worden. Der Deputy, der auf der anderen Straßenseite im Gebüsch gelegen hatte, würde nach Auskunft der Sanitäter mit einigen großen Blutergüssen, einer Gehirnerschütterung und schmerzenden Muskeln zu kämpfen haben, aber mit nichts Schlimmerem.
Als der vermeintliche »Officer Ramos« an der Tür geklingelt hatte, hatte Reynolds gerade mit Kathryn Dance telefoniert, die ihn dringend warnte, dass Pell, der mittlerweile vermutlich als Latino getarnt sei, seine Adresse kenne und ihn ermorden wolle. Daraufhin hatte der Staatsanwalt seine Waffe gezogen und Frau und Sohn in den Keller geschickt, von wo aus sie die Polizei verständigen sollten. Dann war Reynolds durch eine seitliche Tür nach draußen und hinter den Mann geschlichen.
Er hatte kurz davor gestanden, Pell zu erschießen; nur das Eingreifen der Freundin hatte den
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