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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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wie Bienen in ihrem Stock.
    »Erinnerst du dich noch an deinen Krankenhausaufenthalt?«
    »Natürlich.« Ihre Stimme war leise, aber ruhig. Die Frau sah Sam forschend an. Wachsam.
    Im Frühjahr vor den Croyton-Morden hatte Pell zu Sam gesagt, er habe nun ernsthaft vor, sich in die Wildnis zurückzuziehen. Aber zunächst wolle er noch die Familie vergrößern.
    »Ich will einen Sohn«, hatte Pell ihnen unverblümt mitgeteilt, wie ein mittelalterlicher König, der einen Erben einforderte. Einen Monat später war Linda schwanger.
    Vier Wochen danach erlitt sie eine Fehlgeburt. Da sie alle nicht krankenversichert waren, mussten sie sich an eine schäbige Vorstadtklinik wenden, die von Tagelöhnern und Illegalen frequentiert wurde. Die Infektion, die Linda sich dort holte, führte dazu, dass ihr die Gebärmutter entfernt werden musste. Linda war am Boden zerstört; sie hatte sich schon immer Kinder gewünscht und oft zu Sam gesagt, es sei ihre Bestimmung, Mutter zu sein. Und da ihr bewusst sei, wie schlecht ihre Eltern sie behandelt hatten, werde sie diese Rolle ganz besonders gut ausfüllen.
    »Warum bringst du das jetzt zur Sprache?«
    Sam nahm eine Tasse mit lauwarmem Tee. »Weil nicht du schwanger werden solltest, sondern ich.«
    »Du?«
    Sam nickte. »Er ist zuerst zu mir gekommen.«
    »Ehrlich?«
    Sam hatte Tränen in den Augen. »Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen. Ich wollte kein Kind von ihm bekommen, denn dadurch hätte er mich für den Rest meines Lebens unter Kontrolle gehabt.« Jetzt kannst du auch mit dem Rest herausrücken, dachte Sam. Sie musterte die Tischplatte. »Also habe ich gelogen. Ich sagte, du seist dir nicht sicher, ob du noch länger in der Familie bleiben wolltest. Dass du seit Rebeccas Ankunft darüber nachdenken würdest, uns zu verlassen.«
    »Du hast was ?«
    »Ich weiß...« Sie wischte sich über das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich habe zu ihm gesagt, wenn du sein Kind zur Welt bringen dürftest, würde dir das zeigen, wie sehr er sich wünscht, dass du bleibst.«
    Linda riss ungläubig die Augen auf. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, nahm die Bibel und rieb über deren Umschlag.
    »Und nun kannst du überhaupt keine Kinder mehr haben«, fuhr Sam fort. »Ich habe sie dir weggenommen. Ich musste zwischen dir und mir wählen und habe mich gegen dich entschieden.«
    Linda starrte ein schlechtes Bild in einem hübschen Rahmen an. »Warum erzählst du mir das?«
    »Weil ich mich schuldig fühle, schätze ich. Weil ich mich schäme.«
    »Dann geht es dir bei diesem Geständnis also um dich, richtig?«
    »Nein, um uns. Um uns alle...«
    »Uns?«
    »Gut, Rebecca ist ein Miststück.« Das Wort fühlte sich in ihrem Mund fremd an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie es zum letzten Mal benutzt hatte. »Sie denkt nicht nach, bevor sie redet. Aber sie hatte recht, Linda. Keine von uns führt ein normales Leben. Rebecca sollte eine Galerie besitzen, mit irgendeinem attraktiven Maler verheiratet sein und um die Welt fliegen. Aber sie sucht sich einen älteren Mann nach dem anderen – den Grund dafür kennen wir inzwischen. Und du solltest ein echtes Leben haben, heiraten, einen Haufen Kinder adoptieren und sie nach Strich und Faden verwöhnen. Nicht deine Zeit in Suppenküchen verbringen und dich um Kinder kümmern, die du zwei Monate lang siehst und dann nie wieder. Und vielleicht könntest du sogar mal deine Eltern anrufen... Nein, Linda, du führst kein reiches Leben. Du bist unglücklich, das weißt du selbst.« Sie wies auf die Bibel. »Und dahinter versteckst du dich.« Sie lachte auf. »Und ich? Ich habe mich sogar noch tiefer vergraben als du.«
    Sam stand auf und setzte sich neben Linda, die zurückwich. »Der Ausbruch, die Tatsache, dass Daniel so plötzlich wieder zum Thema geworden ist... das ist unsere Chance, so manches in Ordnung zu bringen. Sieh nur, hier sind wir! Alle drei wieder zusammen in einem Raum. Wir können einander helfen.«
    »Und was ist mit dem Jetzt?«
    Sam wischte sich über die Augen. »Dem Jetzt?«
    »Hast du Kinder? Du hast uns nichts von deinem geheimnisvollen Leben erzählt.«
    Sie nickte. »Ich habe einen Sohn.«
    »Wie heißt er?«
    »Mein...?«
    »Wie heißt er?«
    Sam zögerte. »Peter.«
    »Ist er ein niedlicher Junge?«
    »Linda...«
    »Ist er ein niedlicher Junge?, habe ich gefragt.«
    »Linda, du glaubst, es sei damals in der Familie gar nicht so schlimm gewesen. Und du hast recht. Aber nicht wegen Daniel. Wegen uns . Wir haben

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