Die Menschenleserin
jeweils die Lücken im Leben der anderen gefüllt, von denen Rebecca gesprochen hat. Wir haben einander geholfen! Und dann brach alles auseinander, und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Aber wir können erneut für uns da sein! Wie echte Schwestern.« Sam beugte sich vor und nahm die Bibel. »Du glaubst hieran, nicht wahr? Du glaubst, dass Dinge nicht ohne Grund geschehen. Nun, ich glaube, dieses Zusammentreffen war uns vorherbestimmt. Um uns eine Gelegenheit zu geben, unser Leben auf die Reihe zu bekommen.«
»Oh, aber mein Leben gefällt mir ganz großartig«, sagte Linda gelassen und zog Samantha die Bibel aus den zitternden Fingern. »An deinem kannst du ja arbeiten, so viel du willst.«
Daniel Pell parkte den Camry auf einem leeren Abstellplatz am Highway 1 unweit des Carmel River State Beach, neben einem Schild, das vor der gefährlichen Strömung hier warnte. Er saß allein im Wagen.
Ein Hauch von Jennies Parfum stieg ihm in die Nase.
Er schob die Pistole in eine Tasche des Anoraks und stieg aus.
Wieder das Parfum.
Er bemerkte Jennie Marstons Blut in den Nagelbetten seiner Finger, spuckte darauf und wischte es ab, bekam aber nicht alles weg.
Pell ließ den Blick über die Wiesen schweifen, die Zypressen-, Kiefern-und Eichengehölze, die Granitvorsprünge und zerklüfteten Felsen der Carmelo Formation. Im grauen Ozean schwammen und spielten Seelöwen, Robben und Otter. Ein halbes Dutzend Pelikane flog in perfekter Formation über das aufgewühlte Wasser, und zwei Möwen stritten sich erbarmungslos um irgendeinen Fetzen Nahrung, der an den Strand gespült worden war.
Mit gesenktem Kopf ging Pell durch den dichten Wald nach Süden. Es gab in der Nähe einen Pfad, aber er wagte es nicht, ihn zu benutzen, obwohl der Park verlassen zu sein schien. Er durfte es nicht riskieren, auf dem Weg zu seinem Ziel gesehen zu werden: dem Point Lobos Inn.
Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war nach wie vor dicht bewölkt und weitere Schauer daher wahrscheinlich. Die kalte Luft roch intensiv nach Kiefern und Eukalyptus. Nach zehn Minuten erreichte Pell das Dutzend Gebäude der Hotelanlage. Geduckt umrundete er das Gelände und setzte seinen Weg fort. Zwischendurch hielt er immer wieder an, um sich zu orientieren und nach der Polizei Ausschau zu halten. Dann kam in der Ferne plötzlich ein Deputy in Sicht und sah sich um. Pell erstarrte und griff nach der Waffe. Der Beamte kehrte auf die Vorderseite des Hauses zurück.
Vorsicht, ermahnte Pell sich. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um nachlässig zu sein.
Er wich der Hütte weiträumig aus und ging fünf Minuten lang weiter durch den duftenden, dunstigen Wald. Etwa hundert Meter vor ihm und für die Leute in den Gebäuden und den Deputy nicht einsehbar, lag eine kleine Lichtung, auf der es einen überdachten Aussichtspunkt gab. Jemand saß dort auf einer Picknickbank.
Pells Herz fing untypischerweise an, schneller zu schlagen.
Die Frau schaute hinaus aufs Meer. Sie hielt einen Block in der Hand und skizzierte etwas. Was auch immer sie zeichnen mochte, Pell wusste, es würde gut sein. Rebecca Sheffield war talentiert. Er erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen, an einem kühlen, klaren Tag am Strand. Sie hatte von dem Hocker vor ihrer Staffelei aufgeblickt, ganz in der Nähe der Stelle, an der die Familie ihren Flohmarktstand aufgebaut hatte.
»He, möchtest du vielleicht, dass ich dein Porträt zeichne?«
»Kann sein. Wie viel?«
»Du wirst es dir leisten können. Setz dich.«
Er sah sich noch einmal um und konnte niemanden sonst entdecken. Dann ging er zu der Frau, die ihn nicht bemerkt hatte, weil sie völlig auf ihr Motiv und die Bewegungen ihres Zeichenstifts konzentriert war.
Pell kam schnell näher, bis er direkt hinter ihr stand. Er hielt inne.
»Hallo«, flüsterte er.
Sie keuchte auf, ließ den Block fallen, sprang hoch und drehte sich um. »Mein Gott.« Einen Moment lang sagte keiner etwas.
Dann legte sich ein Lächeln auf Rebeccas Züge. Sie trat vor. Der starke Wind hätte beinahe ihre Worte übertönt. »Verdammt, hab ich dich vermisst.«
»Komm her, Liebling«, sagte Pell und zog sie an sich.
...Sechsundvierzig
Sie hatten sich in den Wald zurückgezogen, damit niemand sie sehen würde.
»Die wissen von Jennie«, sagte Rebecca.
»Ich weiß. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.« Er verzog das Gesicht. »Sie hat etwas im Zimmer vergessen. Man konnte sie identifizieren.«
»Und?«
Er zuckte die Achseln. »Sie wird
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