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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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überraschenderweise sagte er: »Moment, bitte.«
    Dance setzte sich wieder hin. Er lachte leise auf und sah ihr in die Augen.
    »Ich war nicht ganz ehrlich zu dir, Kathryn. Das würde aber gar keine Rolle spielen... wäre da nicht gestern Abend gewesen.«
    Was kommt jetzt?, fragte sie sich. Ist seine Exfrau eigentlich gar nicht seine Ex? Oder gibt es womöglich eine Freundin?
    Keines von beidem wäre in diesem Stadium von Belang gewesen. Sie kannten einander kaum, und die gefühlsmäßige Bindung war zwar potenziell bedeutsam, aber derzeit noch vernachlässigbar. Was auch immer es sein mochte, man brachte es besser gleich und offen zur Sprache.
    »Wegen der Kinder.«
    Dance ließ den Es-geht-um-mich-Gedanken fallen und beugte sich aufmerksam vor.
    »Die Wahrheit ist, meine Frau und ich hatten eine Tochter.«
    Bei der Zeitform des Verbs zog Kathryn Dances Magen sich zusammen.
    »Sie ist mit sechzehn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«
    »Oh, Win...«
    Er wies auf das Bild von Dance und ihrem Mann. »Irgendwie ähnlich. Ein Autounfall... Wie dem auch sei, ich habe versagt. Total. Ich bin mit der Situation völlig überfordert gewesen. Ich wollte für Jill da sein, aber das war ich nicht, jedenfalls nicht so, wie ich es hätte sein müssen. Du weißt ja, wie das ist, ein Cop zu sein. Der Job kann so viel von deinem Leben beanspruchen, wie du willst. Und ich habe ihm zu viel Raum gegeben. Wir wurden geschieden, und einige Jahre war es wirklich schlimm. Für uns beide. Aber wir haben es halbwegs hinbekommen und sind nun so was wie Freunde. Und sie hat wieder geheiratet.
    Aber ich muss es dir einfach sagen – es fällt mir schwer, mit Kindern unbekümmert umzugehen. Ich habe diese Fähigkeit aus meinem Leben ausgeklammert. Du bist die erste Frau, zu der ich mich auch nur annähernd hingezogen fühle, die Kinder hat. Ich will bloß sagen, dass es nicht an dir oder Wes oder Maggie liegt, wenn ich mich ein wenig gezwungen verhalte. Die beiden sind wundervoll. Ich mache eine Therapie und arbeite daran. Das ist alles.« Er hob die Hände; für gewöhnlich eine symbolische Geste, die bedeutet: Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Hass mich oder liebe mich, aber so ist es nun mal …
    »Es tut mir so leid, Win.«
    Sie nahm ohne zu zögern seine Hand und drückte sie. »Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Ich weiß, dass es dir schwergefallen ist. Und ich hatte tatsächlich etwas bemerkt, auch wenn ich mir nicht sicher war, worum es sich eigentlich gehandelt hat.«
    »Adlerauge.«
    Sie lachte. »Ich hab mal mitbekommen, wie Wes zu einem Freund gesagt hat: ›Es kann echt ätzend sein, wenn deine Mutter ein Cop ist.‹«
    »Vor allem wenn sie außerdem ein wandelnder Lügendetektor ist.« Er lächelte ebenfalls.
    »Ich trage auch mein Päckchen mit mir herum, wegen Bill.«
    Und wegen Wes, dachte sie, sagte es aber nicht.
    »Wir lassen es langsam angehen.«
    »Langsam ist gut«, sagte sie.
    Er drückte ihren Unterarm, eine schlichte, intime und angemessene Geste.
    »Nun sollte ich aber wieder unseren drei Schwestern Gesellschaft leisten.«
    Sie begleitete ihn in sein einstweiliges Büro und fuhr dann zurück zum Point Lobos Inn.
    Als sie das Haus betrat, merkte sie sofort, dass die Stimmung sich geändert hatte. Die kinesischen Signale waren vollkommen anders als am Vortag. Die Frauen wirkten rastlos und gereizt. Dance fielen Körperhaltungen und Mienen auf, die auf Anspannung, Abwehr und offene Feindseligkeit hindeuteten. Befragungen und Verhöre waren langwierige Prozesse, und es kam nicht selten vor, dass auf einen erfolgreichen Tag eine Sitzung folgte, die sich als absolute Zeitverschwendung erwies. Dance war enttäuscht und schätzte, dass es Stunden, wenn nicht sogar Tage dauern würde, die Frauen in die mentale Lage zu versetzen, wieder hilfreiche Informationen liefern zu können.
    Trotzdem wagte sie einen Versuch. Sie zählte auf, was sie über Jennie Marston erfahren hatten, und fragte, ob die Frauen etwas über sie wüssten. Die drei verneinten. Dann versuchte Dance das Gespräch vom Vortag fortzusetzen, aber die heutigen Anmerkungen und Erinnerungen waren nur oberflächlich. Linda schien für alle zu sprechen, als sie sagte: »Ich weiß einfach nicht, was ich noch zu dem Fall beitragen könnte. Ich möchte nach Hause.«
    Dance glaubte, dass die Frauen bereits einen unschätzbaren Beitrag geleistet hatten; sie hatten das Leben von Reynolds und seiner Familie gerettet, Einblicke in Pells

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