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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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passe schon auf. Und falls mir ein fremder Mann Schokolade anbietet, renne ich schnell weg.« Der Scherz misslang gründlich.
    »Es ist zwar dumm, aber mach doch, was du willst.«
    »Hör mal, das mit gestern Abend tut mir leid«, sagte Rebecca. »Ich hatte zu viel getrunken.«
    »Schön«, sagte Linda geistesabwesend und las weiter in ihrer Bibel.
    »Du wirst nass werden«, sagte Sam.
    »Ich gehe zu einem der überdachten Aussichtspunkte. Ich möchte zeichnen.« Rebecca zog sich ihre Lederjacke an, entriegelte die Hintertür, nahm ihren Block und die Schachtel mit Zeichenstiften und ging hinaus. Sam sah, dass sie sich noch einmal umdrehte, und konnte an ihrer Miene ablesen, wie sehr die Frau ihre gehässigen Worte vom Vorabend bedauerte. »Schließ hinter mir ab.«
    Sam ging zu der Tür, legte die Kette vor und drehte den Schlüssel zweimal herum. Dann verfolgte sie, wie Rebecca auf den Pfad einbog, und wünschte, sie wäre nicht weggegangen.
    Aber nicht aus Sorge um Rebeccas Sicherheit, sondern aus einem völlig anderen Grund.
    Sam war nun mit Linda allein.
    Nun gab es keine Ausreden mehr.
    Ja oder nein? Sam setzte das innere Streitgespräch fort, das vor einigen Tagen mit Kathryn Dances Aufforderung begonnen hatte, nach Monterey zu kommen und ihnen zu helfen.
    Komm zurück, Rebecca, dachte sie.
    Nein, bleib weg.
    »Ich glaube, das hätte sie nicht tun sollen«, murmelte Linda.
    »Sollen wir den Wachen Bescheid geben?«
    »Was würde das nützen? Sie ist ein großes Mädchen.« Linda verzog das Gesicht. »Das würde sie vermutlich auch selbst sagen.«
    »Was ihr da zugestoßen ist, mit ihrem Vater«, sagte Sam. »Das ist so furchtbar. Ich hatte ja keine Ahnung.«
    Linda las weiter. Dann blickte sie auf. »Weißt du, die wollen ihn töten.«
    »Wie bitte?«
    »Die werden ihm keine Chance geben.«
    Sam entgegnete nichts darauf. Sie hoffte immer noch, dass Rebecca zurückkommen würde, und hoffte es gleichzeitig nicht.
    »Man kann ihn retten«, sagte Linda leicht flehentlich. »Er ist kein hoffnungsloser Fall. Aber die wollen ihn bei der erstbesten Gelegenheit abknallen, damit sie ihn endgültig los sind.«
    Natürlich wollen sie das, dachte Sam. Und wie seine Rettung aussehen sollte, war sie ehrlich überfragt.
    »Diese Rebecca... Genau wie ich sie in Erinnerung habe.« Linda ächzte leise auf.
    »Was liest du da?«, fragte Sam.
    »Könntest du mit Kapitel und Vers etwas anfangen?«
    »Nein.«
    »Na also.« Linda fing an zu lesen, blickte dann aber wieder von dem heiligen Buch auf. »Sie hat unrecht. Was Rebecca gesagt hat. Die Familie war kein Hort der Selbsttäuschung oder für was auch immer sie das hält.«
    Sam blieb stumm.
    Okay, dachte sie. Fang an. Jetzt oder nie.
    »Ich weiß zumindest einen Punkt, in dem sie sich geirrt hat.«
    »Welchen?«
    Sam atmete tief durch. »Ich war nicht die ganze Zeit eine Maus.«
    »Ach das. Nimm das nicht so ernst. Ich habe das nie von dir behauptet.«
    »Einmal habe ich gegen ihn aufbegehrt. Und Nein zu ihm gesagt.« Sie lachte auf. »Ich sollte es mir auf ein T-Shirt drucken lassen: ›Ich habe Nein zu Daniel Pell gesagt.‹«
    Lindas Lippen wurden schmal. Der versuchte Scherz stand bleischwer zwischen ihnen. Sam ging zum Fernseher und schaltete ihn aus. Setzte sich auf einen Lehnsessel und beugte sich vor.
    »Du hast doch irgendwas vor, das kann ich spüren«, stellte Linda argwöhnisch fest. »Aber ich bin nicht in der Stimmung, mich schon wieder niedermachen zu lassen.«
    »Es geht darum, mich niederzumachen, nicht dich.«
    »Was meinst du damit?«
    Ein paar tiefe Atemzüge. »Den Vorfall, bei dem ich zu Daniel Nein gesagt habe.«
    »Sam...«
    »Weißt du, warum ich hergekommen bin?«
    Sie verzog das Gesicht. »Um zu helfen, den bösen Ausbrecher zu fangen. Um Leben zu retten. Du hast dich schuldig gefühlt. Du wolltest gern mal einen längeren Ausflug machen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, Sam. Warum bist du hergekommen?«
    »Weil Kathryn gesagt hatte, du würdest hier sein. Ich wollte dich sehen.«
    »Du hattest acht Jahre Zeit. Wieso gerade jetzt?«
    »Ich habe schon vorher darüber nachgedacht, dich ausfindig zu machen. Einmal war ich fast so weit. Aber ich konnte nicht. Ich brauchte einen Vorwand, einen Ansporn.«
    »Daniels Flucht aus dem Gefängnis war ein Ansporn für dich? Was hat das alles zu bedeuten?« Linda legte die Bibel aufgeschlagen vor sich hin. Samantha starrte die mit Bleistift vorgenommenen Randnotizen an. Sie drängten sich so dicht aneinander

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