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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Gehst du schnorcheln? Du hast gesagt, es würde dich interessieren. Das weiß ich noch.« Es gab dort ein riesiges Unterwasser-Naturschutzgebiet. Sie und Brian hatten erwogen, gemeinsam mal hinzufahren.
    »Ja, klar. Das haben wir fest eingeplant. Ich wollte dich bloß fragen, ob ich das Buch zurückhaben könnte, das ich dir geliehen habe. Das über die Wanderwege rund um San Diego.«
    »Oh, tut mir leid.«
    »Kein Problem. Ich hab mir ein neues gekauft. Du kannst es behalten. Ich bin sicher, du kommst irgendwann mal dorthin.«
    Sie musste unwillkürlich kichern. »Bestimmt.«
    »Sonst alles klar?«
    »Ja, alles bestens.«
    »Ich ruf dich an, wenn ich wieder zurück bin.«
    Kathryn Dance, die kinesische Analytikerin und erfahrene Verhörspezialistin, wusste, dass Menschen bei ihren Lügen oft damit rechnen – oder sogar darauf hoffen -, dass der Zuhörer die Irreführung durchschaut. Meistens bei Gelegenheiten wie dieser.
    »Das wäre prima, Brian.«
    Sie ging davon aus, dass sie für den Rest ihrer beider Leben kein einziges Wort mehr wechseln würden.
    Dance klappte das Telefon zusammen und ging in ihr Schlafzimmer. Dort schob sie den Berg Schuhe beiseite und fand ihre alte Gitarre, eine vierzig Jahre alte Martin 00-18 mit Mahagonikorpus und einer Decke aus Fichtenholz, das im Laufe der Jahre die Farbe von Toffee angenommen hatte.
    Sie nahm das Instrument mit hinaus aufs Deck, setzte sich und stimmte die Saiten.
    Ihre Finger waren klamm – sowohl wegen der kühlen Temperatur als auch aus Mangel an Übung. Dann fing sie an zu spielen. Zunächst einige Tonleitern und Akkordfolgen, danach den Bob-Dylan-Song »Tomorrow Is a Long Time«.
    Ihre Gedanken wanderten von Brian Gunderson zu den Vordersitzen ihres Dienstwagens und Winston Kellogg.
    Sie schmeckte Pfefferminz, roch Haut, aber kein Rasierwasser …
    Während sie spielte, registrierte sie eine Bewegung im Haus. Ihr Sohn steuerte schnurgerade den Kühlschrank an und kehrte gleich darauf mit einem Glas Milch und einem großen Keks in sein Zimmer zurück. Der Raubzug hatte nicht mal dreißig Sekunden gedauert.
    Sie ertappte sich bei der Überlegung, dass sie Wes’ Einstellung die ganze Zeit als Irrtum angesehen hatte, als Fehler, der korrigiert werden musste.
    Eltern neigen zu der Ansicht, ihre Kinder würden stichhaltige Einwände gegen potenzielle Stiefeltern oder auch nur gelegentliche Verabredungen erheben. So dürfen Sie nicht denken.
    Doch inzwischen war Dance sich nicht mehr so sicher. Vielleicht erheben Kinder bisweilen doch stichhaltige Einwände. Vielleicht sollten wir ihnen zuhören, und zwar genauso sorgfältig und unvoreingenommen wie bei der Befragung von Zeugen im Zuge einer strafrechtlichen Ermittlung. Vielleicht hatte sie ihn die ganze Zeit als zu selbstverständlich betrachtet. Sicher, Wes war ein Kind, kein Partner, aber er sollte dennoch ein Mitspracherecht haben. Hier sitze ich nun, dachte sie, eine Kinesik-Expertin, die ständig nach Abweichungen von der Norm Ausschau hält und daraus folgert, dass etwas nicht stimmt.
    Bin ich bei Winston Kellogg von meiner eigenen Norm abgewichen?
    Die Reaktion ihres Sohnes deutete womöglich darauf hin.
    Das musste sie sich mal genauer durch den Kopf gehen lassen.
    Dance war mitten in einem Lied von Paul Simon und summte die Melodie, weil sie den Text nicht vollständig kannte, als sie das Quietschen der Pforte hörte, die hinauf zum Deck führte.
    Sie hörte auf zu spielen und schaute zur Treppe. Michael O’Neil kam die Stufen empor. Er trug den grau-braunen Pullover, den sie ihm vor einem Jahr aus dem Skiurlaub in Colorado mitgebracht hatte.
    »He«, sagte er. »Störe ich?«
    »Nie.«
    »Anne hat in einer Stunde eine Ausstellungseröffnung. Aber ich dachte, ich komme vorher kurz hier vorbei und sage hallo.«
    »Ich freue mich.«
    Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, und als sie nickte, gab er ihr auch eines. Dann setzte er sich neben sie. Sie öffneten die Flaschen und tranken beide einen großen Schluck.
    Dance fing an, ein Instrumentalstück zu spielen, das für die Gitarre umgeschrieben worden war, eine alte keltische Weise von Turlough O’Carolan, dem blinden irischen Wander-Harfenisten.
    O’Neil sagte nichts, sondern trank einfach sein Bier und nickte im Rhythmus der Melodie. Dance bemerkte, dass er in Richtung Meer blickte – obwohl er es nicht sehen konnte; die Aussicht wurde von üppigen Kiefern verstellt. Sie erinnerte sich, dass sie und Wes vor einer Weile den alten

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