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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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dort arbeiten, sondern als wäre es meine Party, mit meinen Freunden und Angehörigen.«
    Draußen vor dem Fenster schwebte eine hungrige Seemöwe über einem Poller, landete dann unbeholfen und suchte nach etwas Essbarem. Pell hatte ganz vergessen, wie groß diese Vögel waren.
    »Oder wenn ich einen Kuchen backe, zum Beispiel eine Hochzeitstorte«, fuhr Jennie fort. »Manchmal denke ich dann, dass wir nur auf die kleinen Freuden zählen dürfen. Man gibt sich bei dem Kuchen so viel Mühe wie möglich, und die Leute erfreuen sich daran. Oh, nicht für immer. Aber was auf der Welt macht einen schon für immer glücklich?«
    Wie wahr. »Ich werde in Zukunft nur noch deinen Kuchen essen.«
    Sie lachte auf. »Oh, na klar, Schatz, was denn sonst? Aber ich freue mich, dass du es gesagt hast. Vielen Dank.«
    Sie klang plötzlich reif und erwachsen. Mit anderen Worten, sie hatte das Gespräch unter Kontrolle. Pell fühlte sich in die Defensive gedrängt. Es gefiel ihm nicht. Er wechselte das Thema. »Nun, ich hoffe, der Sandbutt schmeckt dir. Ich mag ihn sehr. Möchtest du noch einen Eistee?«
    »Nein, im Augenblick nicht. Sitz einfach nur hier bei mir. Das ist alles, was ich möchte.«
    »Lass uns einen Blick auf die Straßenkarten werfen.«
    Jennie öffnete ihre Handtasche, nahm die Karten heraus und klappte eine auseinander. Pell sah sie sich an. Ihm fiel auf, wie sehr die Halbinsel sich in den letzten acht Jahren verändert hatte. Dann hielt er inne, weil er sich irgendwie komisch fühlte. Er konnte die Empfindung nicht so recht deuten. Aber sie war sehr angenehm.
    Dann begriff er es: Er war frei.
    Seine Gefangenschaft, acht Jahre unter der Kontrolle anderer Leute, war vorbei, und er konnte sein Leben von Neuem beginnen. Sobald er seine Angelegenheiten hier geregelt hatte, würde er für immer fortgehen und eine neue Familie gründen. Pell ließ den Blick über die anderen Gäste im Restaurant schweifen. Einige fielen ihm besonders auf: das halbwüchsige Mädchen zwei Tische weiter, dessen Eltern wortlos über ihre Teller gebeugt dasaßen, als wäre jedwede Unterhaltung zu viel verlangt. Die Tochter war etwas mollig und würde sich leicht von zu Hause weglocken lassen, sobald er sie bei Starbucks oder in einer Spielhalle allein zu fassen bekäme. Er würde höchstens zwei Tage benötigen, um sie davon zu überzeugen, dass es ungefährlich wäre, zu ihm in den Wagen zu steigen.
    Und dort am Tresen der etwa zwanzigjährige Mann (dem kein Bier serviert worden war, weil er seinen Ausweis »vergessen« hatte). Er war tätowiert – mit irgendwelchen blödsinnigen Motiven, die er wahrscheinlich bereute. Seine schäbige Kleidung und die Tatsache, dass er nur eine Suppe aß, deuteten auf Geldprobleme hin. Seine Augen huschten durch das Restaurant und blieben an jedem weiblichen Wesen haften, das älter als ungefähr sechzehn war. Pell wusste genau, was er tun musste, um den Jungen binnen weniger Stunden anzuwerben.
    Auch die junge Mutter entging ihm nicht, eine Alleinerziehende, falls der leere Ringfinger nicht trog. Sie saß mit hängenden Schultern in einer Nische – natürlich mit Männerproblemen. Das Baby, das in dem Kinderwagen neben ihr lag, interessierte sie kaum. Sie würdigte das Kind keines Blickes, und falls es zu weinen anfing, würde sie schnell die Geduld verlieren. Hinter ihrer niedergedrückten Körperhaltung und den gereizt funkelnden Augen steckte mit Sicherheit eine Geschichte, aber die war Pell ziemlich egal. Für ihn zählte nur, dass keine feste Bindung zu dem Baby bestand. Er wusste, falls es ihm gelang, die Frau zu sich zu locken, würde es relativ einfach sein, Mutter und Kind zu trennen, sodass er sofort Vater wäre.
    Pell musste an eine Geschichte denken, die seine Tante Barbara ihm vorgelesen hatte, als er damals bei ihr in Bakersfield gewesen war: die Sage von dem Rattenfänger von Hameln, einem Flötenspieler, der tanzend die Kinder einer mittelalterlichen deutschen Stadt weggelockt hatte, weil die Bürger sich weigerten, ihn für die Beseitigung einer Rattenplage zu bezahlen. Die Erzählung hatte bei Pell einen großen und bleibenden Eindruck hinterlassen. Als Erwachsener hatte er mehr über den Vorfall gelesen, dessen wahre Fakten sich von den Darstellungen der Gebrüder Grimm und anderer populärer Versionen unterschieden. Vermutlich hatten weder Ratten noch unbezahlte Rechnungen eine Rolle gespielt; aus Hameln war schlicht eine gewisse Anzahl Kinder verschwunden und nie wieder aufgetaucht.

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