Die Menschenleserin
bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber wieso sind Sie noch am Leben?«
»Ich... Na ja, ich hab ihn angefleht, mir nichts zu tun. Ich bin praktisch auf Händen und Knien gekrochen. Es war ganz schön peinlich.«
Und es war gelogen. Dance brauchte sich gar nicht erst einen grundlegenden Eindruck zu verschaffen, um zu erkennen, wie angespannt der Mann war. Billy sah weg und wurde rot.
»Ich muss die Wahrheit wissen. Es könnte wichtig sein«, drängte sie.
»Ehrlich. Ich hab geweint wie ein Baby. Ich glaube, ich habe ihm leidgetan.«
»Daniel Pell hat in seinem ganzen Leben noch nie so etwas wie Mitleid empfunden«, sagte O’Neil.
»Reden Sie weiter«, sagte Dance sanft.
»Also, na gut...« Er schluckte vernehmlich, und sein Gesicht lief leuchtend rot an. »Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Er wollte mich umbringen, da bin ich sicher. Ich sagte, falls er mich am Leben ließe...« Ihm stiegen Tränen in die Augen. Es fiel Dance schwer, sein Elend mit anzusehen, aber sie musste verstehen, was in Pell vorging und warum dieser Mann noch lebte, während zwei andere unter ähnlichen Umständen ermordet worden waren.
»Nur Mut«, sagte sie.
»Ich sagte, falls er mich am Leben ließe, würde ich tun, was er verlangt. Ich dachte an Geld oder so. Aber er wollte, dass ich … Wissen Sie, er hat das Foto meiner Frau gesehen, und sie hat ihm gefallen. Also hat er mich aufgefordert, ihm zu beschreiben, was wir zusammen gemacht haben. Sie wissen schon, intime Dinge.« Er starrte den Betonboden des Parkdecks an. »Er wollte alle Einzelheiten. Ich meine... wirklich alles.«
»Was noch?«, hakte Dance nach.
»Das war alles. Es war so peinlich.«
»Billy, bitte erzählen Sie es mir.«
Er sah wieder nach unten, und seine Augen waren immer noch voller Tränen. Sein Unterkiefer zitterte.
»Was?«
Billy atmete tief durch. »Er hat meine Telefonnummer von zu Hause. Und er sagte, er würde mich irgendwann abends anrufen. Vielleicht nächsten Monat, vielleicht in einem halben Jahr. Ich müsse immer damit rechnen. Und wenn er anrief, sollten meine Frau und ich ins Schlafzimmer gehen und... Sie wissen schon...« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Ich sollte den Hörer neben die Gabel legen, damit er uns zuhören könnte. Pam sollte einige Sachen sagen, die er mir genannt hat.«
Dance sah zu O’Neil, der leise ausatmete. »Wir werden ihn erwischen, bevor es dazu kommt.«
Der Mann wischte sich über die Augen. »Fast hätte ich gesagt: ›Nein, du Arschloch. Dann bring mich lieber um.‹ Aber ich konnte nicht.«
»Kommen Sie, wir bringen Sie nun zu Ihrer Familie. Sie könnten eine Weile die Stadt verlassen.«
»Ich hätte es fast zu ihm gesagt, ehrlich.«
Ein Sanitäter führte ihn zurück zum Krankenwagen.
»Verdammt noch mal, womit haben wir es hier zu tun?«, flüsterte O’Neil.
Und nahm Dance damit die Worte aus dem Mund.
»Detective, ich hab ein Telefon gefunden«, rief ein Deputy des MCSO und kam zu ihnen. »Es lag ein Stück die Straße hinauf in einem Abfalleimer. Der Akku war auf der anderen Straßenseite, in einer anderen Mülltonne, und die SIM-Karte ebenfalls.«
»Gute Arbeit«, lobte O’Neil.
TJ reichte Dance ein Paar Latexhandschuhe. Sie zog sie an, nahm das Telefon und setzte den Akku und die Karte wieder ein. Dann schaltete sie das Gerät ein und scrollte durch die Liste der letzten Anrufe. Seit dem Ausbruch waren keine Gespräche eingegangen, aber fünf getätigt worden. Dance rief die Nummern O’Neil zu, der erneut seine Techniker am Apparat hatte. Sie überprüften die jeweiligen Anschlüsse.
Die erste Nummer existierte gar nicht; sogar die Vorwahl war falsch – was bedeutete, dass das vermeintliche Gespräch mit einem Komplizen hinsichtlich Billys Familie niemals stattgefunden hatte. Der Kurierfahrer hatte lediglich eingeschüchtert werden sollen, damit er tat, was Pell von ihm verlangte.
Der zweite und der dritte Anruf waren an eine Nummer erfolgt, die zu einem Prepaid-Mobiltelefon gehörte. Das Gerät war gegenwärtig ausgeschaltet oder zerstört; es gab kein Signal, das man hätte anpeilen können.
Die letzten beiden Nummern erwiesen sich als aufschlussreicher. Der erste Anruf hatte der Telefonauskunft von Utah gegolten. Die letzte Nummer – die Pell offenbar bei der Auskunft erfragt hatte – gehörte zu einem Campingplatz außerhalb von Salt Lake City.
»Bingo«, sagte TJ.
Dance rief die Nummer an und identifizierte sich als Ermittlungsbeamtin. Dann erkundigte sie sich
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