Die Menschenleserin
Aber falls er tatsächlich blieb, wollte Dance ihn dazu veranlassen, sich aus der Deckung zu wagen. Daher hatte sie etwas getan, das für sie andernfalls nicht in Betracht gekommen wäre. Sie hatte Charles Overby benutzt. Sie wusste, er würde sofort zu den Medien rennen, wenn er von Utah erfuhr, und bekannt geben, dass die Suche sich nun auf die Straßen in Richtung Osten konzentrierte. Dies würde Pell hoffentlich in falscher Sicherheit wiegen und die Chance erhöhen, dass er in der Öffentlichkeit auftauchte.
Aber wo mochte das geschehen?
Dance hoffte, dass die Antwort auf diese Frage sich aus ihrer Unterredung mit Eddie Chang ableiten ließe. Sie hatte versucht, mehr über Daniel Pells Vorlieben zu erfahren, seine Interessen und Schwächen. Sex spiele für ihn eine große Rolle, hatte Chang ihr erzählt. Daraus folgerte sie, dass er vielleicht einen Massagesalon, ein Bordell oder eine Begleitagentur aufsuchen würde – aber es gab auf der Halbinsel nur wenige davon. Außerdem hatte er seine Komplizin, die ihm wahrscheinlich ausreichend Befriedigung verschaffen würde.
»Was noch?«, hatte sie Chang gefragt.
»Oh, he, da war wirklich noch etwas. Essen.«
Wie es schien, besaß Daniel Pell eine ausgeprägte Vorliebe für Meeresfrüchte, und vor allem für einen Fisch namens Sandbutt. Er hatte mehrmals erwähnt, dass es an der Küste Zentralkaliforniens nur vier oder fünf Restaurants gebe, die sich auf die richtige Zubereitung verstünden. Und er war in dieser Hinsicht äußerst qualitätsbewusst. Dance notierte sich die Namen der Lokale, an die Chang sich erinnern konnte. Drei hatten geschlossen, seit Pell ins Gefängnis gekommen war, aber eines am Fisherman’s Wharf in Monterey und eines in Moss Landing existierten nach wie vor.
Das war der unorthodoxe Auftrag, mit dem Dance ihren Kollegen Carraneo betraut hatte: Er sollte diese beiden Restaurants anrufen – sowie alle weiteren entlang der Küste, die ähnliche Speisen anboten – und sie von dem entflohenen Strafgefangenen in Kenntnis setzen, der sich in Begleitung einer schlanken Frau mit blondem Haar befinden könnte.
Es war weit hergeholt, und Dance hatte wenig Hoffnung gehabt, dass es funktionieren würde, aber dann war Carraneo vom Geschäftsführer des Jack’s verständigt worden, einem weithin bekannten Restaurant in Moss Landing. Gegenwärtig hielt ein Pärchen sich dort auf und benahm sich seiner Meinung nach verdächtig: Im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen saßen die beiden drinnen, und der Mann behielt die ganze Zeit den Eingang im Auge. Er war glatt rasiert und trug eine Sonnenbrille und eine Baseballmütze, sodass man nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob es sich um Pell handelte. Die Frau schien blond zu sein, obwohl auch sie eine Mütze samt dunkler Brille trug. Aber das Alter der beiden stimmte.
Dance hatte den Geschäftsführer sofort zurückgerufen und sich erkundigt, ob jemand wisse, mit welchem Wagen das Paar gekommen sei. Der Mann sagte, darauf habe niemand geachtet. Aber der kleine Parkplatz war nicht besonders voll, und einer der Hilfskellner war nach draußen gegangen und hatte Dance – auf Spanisch – die Kennzeichen aller dort abgestellten Fahrzeuge durchgegeben.
Eine schnelle Anfrage bei der Zulassungsstelle ergab, dass einer der Wagen, ein türkisfarbener Thunderbird, erst letzten Freitag gestohlen worden war – wenngleich seltsamerweise nicht im näheren Umkreis, sondern in Los Angeles.
Unter Umständen war es ein blinder Alarm, doch Dance beschloss, das Risiko einzugehen; falls nicht Pell, würden sie wenigstens einen Autodieb verhaften können. Sie benachrichtigte O’Neil und sagte dann zu dem Geschäftsführer: »Wir kommen so schnell wie möglich. Tun Sie nichts. Ignorieren Sie ihn einfach und verhalten Sie sich ganz normal.«
»Ganz normal«, sagte der Mann mit zitternder Stimme. »Ist gut.«
Kathryn Dance sah nun bereits gespannt Pells nächstem Verhör entgegen. Vor allem eine Frage interessierte sie brennend: Warum war er in der Nähe geblieben?
Sie durchquerten Sand City, ein Gewerbegebiet entlang des Highway 1. Der Verkehr war nicht mehr so dicht, und O’Neil trat das Gaspedal durch. In zehn Minuten würden sie bei dem Restaurant sein.
... Fünfzehn
»Ist das nicht das Beste, was du je gegessen hast?«
»O Schatz, die sind wirklich gut. Strandbutt.«
»Sandbutt«, berichtigte Pell. Er überlegte, ob er ein drittes Sandwich bestellen sollte.
»So viel zu meinem Ex«, fuhr Jennie fort.
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