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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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auf den Tischen.«
    Jennie und Pell waren in Moss Landing, nördlich von Monterey. Am Ufer stand mit hoch aufragenden Schornsteinen ein riesiges Kraftwerk. Jenseits des Highways gab es einen schmalen Streifen Land, eine kleine Insel, die nur über eine Brücke zu erreichen war. Auf diesem Stück sandigen Bodens waren nicht nur diverse Firmen und Kaianlagen angesiedelt, sondern auch das verschachtelte, große Gebäude, in dem Pell und Jennie sich nun befanden: Jack’s Seafood. Es existierte seit einem Dreivierteljahrhundert. An den fleckigen, verschrammten Tischen hatten schon John Steinbeck, Joseph Campbell und Henry Miller – sowie Flora Woods, Montereys berühmteste Puffmutter – gesessen, gestritten, gelacht und getrunken, bis der Laden schloss und manchmal auch noch sehr viel länger.
    Heutzutage war das Jack’s ein kommerzieller Fangbetrieb, ein Fischmarkt und ein gemütliches Restaurant, alles in einem. Anders als in den lebhaften vierziger und fünfziger Jahren traf man hier nun deutlich weniger Bohemiens an, aber dafür hatte der Laden es bis ins Fernsehen geschafft.
    Pell kannte ihn noch aus der Zeit, als die Familie unweit von hier in Seaside gewohnt hatte. Damals waren sie nur selten gemeinsam essen gegangen, aber er hatte Jimmy oder Linda oft hergeschickt, damit sie Sandwiches, Pommes frites und Krautsalat kauften. Er war ganz verrückt nach dem Essen und freute sich aufrichtig, dass es das Restaurant noch gab.
    Auf der Halbinsel blieb noch einiges zu erledigen, doch das musste ein wenig warten. Außerdem kam er fast um vor Hunger und nahm an, dass er sich in die Öffentlichkeit wagen konnte. Die Polizei würde nicht nach einem fröhlichen Touristenpärchen Ausschau halten – vor allem nicht hier, da man glaubte, er sei inzwischen schon halb in Utah. Wenigstens hatte er das in den Radionachrichten gehört – irgendein aufgeblasener Arsch namens Charles Overby hatte eine entsprechende Verlautbarung gemacht.
    Beim Jack’s gab es eine offene Veranda mit Blick auf die Fischerboote und die Bucht, aber Pell wollte drinnenbleiben und die Tür im Auge behalten. Er nahm am Tisch Platz und widerstand dem Impuls, die unbequeme Automatikpistole hinten in seinem Hosenbund zurechtzurücken. Jennie setzte sich neben ihn und drückte ihr Knie gegen seines.
    Pell nippte an seinem Eistee. Er schaute zu Jennie und sah, dass sie eine Vitrine musterte, in der sich große Torten drehten.
    »Möchtest du nach den Sandwiches einen Nachtisch?«
    »Nein, Schatz. Die sehen nicht allzu gut aus.«
    »Nicht?« Für ihn sahen sie sogar ausgesprochen gut aus, und dabei war Pell gar nicht mal so sehr auf Süßigkeiten versessen. Aber das hier waren ein paar verdammt prächtige Torten. In Capitola hätte man für ein einziges Stück eine ganze Stange Zigaretten bekommen können.
    »Die bestehen bloß aus Zucker, Weißmehl und Geschmacksstoffen. Vielleicht noch aus Maissirup und billiger Schokolade. Die Optik stimmt, und sie sind süß, aber sie schmecken nach gar nichts.«
    »Würdest du bei deinem Partyservice nicht solche Torten backen?«
    »Nein, nein, das käme gar nicht in Frage«, sagte sie angeregt und nickte in Richtung der Vitrine. »Die Leute essen so viel von dem Zeug, weil es nicht satt macht und sie immer mehr wollen. Mein Schokoladenkuchen kommt ganz ohne Mehl aus. Er besteht aus Schokolade, Zucker, gemahlenen Nüssen, Vanille und Eigelb. Dann überziehe ich ihn mit ein wenig Himbeerglasur. Nur ein paar Bissen davon, und man ist glücklich.«
    »Klingt ziemlich gut.« Er fand es widerwärtig. Aber sie erzählte ihm von sich, und man musste die Leute stets dazu ermutigen. Mach sie betrunken, lass sie palavern. Wissen war eine bessere Waffe als ein Messer. »Ist das deine Hauptaufgabe? Kuchen zu backen?«
    »Nun, das Backen mag ich am liebsten, weil ich dabei alle Schritte unter Kontrolle habe. Ich mache alles selbst. In den anderen Bereichen werden die Vorarbeiten von anderen Leuten übernommen.«
    Kontrolle, dachte er. Interessant. Das musste er sich merken.
    »Manchmal arbeite ich auch beim Service. Als Bedienung bekommt man Trinkgelder.«
    »Ich wette, du kriegst eine Menge Trinkgeld.«
    »Manchmal, ja. Kommt darauf an.«
    »Und gefällt es dir?... Worüber lachst du?«
    »Einfach nur, weil... ich kann mich nicht erinnern, wann mich zuletzt jemand – ich meine, ein Freund – gefragt hat, ob mir mein Job gefällt... Wie dem auch sei, klar, zu bedienen macht Spaß. Manchmal tue ich so, als würde ich nicht bloß

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