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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Die näheren Umstände – darunter auch die angeblich teilnahmslose Reaktion der Eltern – blieben ein Geheimnis.
    Eine Erklärung lautete, dass die Kinder an der Pest oder einem Leiden erkrankt waren, das tanzähnliche Zuckungen hervorrief, und zum Sterben aus der Stadt geführt wurden, weil die Erwachsenen eine Ansteckung fürchteten. Eine andere besagte, der sogenannte Rattenfänger habe eine religiöse Pilgerfahrt für Kinder organisiert, und unterwegs seien alle bei einer Naturkatastrophe oder einem militärischen Konflikt ums Leben gekommen.
    Es gab jedoch noch eine weitere Theorie, und die gefiel Pell am besten. Dass die Kinder ihre Eltern freiwillig verlassen hatten und dem Rattenfänger nach Osteuropa gefolgt waren, wo sie eine Kolonie gründeten und eigene Ansiedlungen errichteten, mit dem Rattenfänger als unumschränktem Herrscher. Pell liebte die Vorstellung, dass jemand die Fähigkeit besaß, Dutzende – manche behaupteten, mehr als hundert – Kinder von ihren Familien wegzulocken und an die Stelle der Eltern zu treten. Mit was für Veranlagungen mochte der Rattenfänger wohl geboren worden sein? Und wie hatte er sie selbst noch vervollkommnet?
    Die Kellnerin brachte das Essen und riss Pell damit aus seinen Tagträumen. Seine Augen richteten sich erst auf ihre Brüste und dann auf den Teller.
    »Sieht prima aus, Schatz«, sagte Jennie mit Blick auf das Sandwich.
    Pell reichte ihr eine Flasche. »Hier ist der Malzessig. Tu was auf den Fisch. Einfach ein paar Spritzer.«
    »Okay.«
    Er sah sich noch ein letztes Mal im Restaurant um: das mürrische Mädchen, der nervöse Junge, die geistesabwesende Mutter... Selbstverständlich würde er zu diesem Zeitpunkt keinen der drei in Angriff nehmen. Er war einfach nur begeistert darüber, dass sich so viele Möglichkeiten boten. Sobald er sich halbwegs eingerichtet hätte, in einem Monat oder so, würde er wieder auf die Jagd gehen – in den Spielhallen, den Starbucks-Filialen, den Parks, auf den Schulhöfen und Unigeländen, bei McDonald’s …
    Der Rattenfänger von Kalifornien ...
    Nun widmete Daniel Pell sich seinem Mittagessen und biss herzhaft in sein Sandwich.
     
    Die Wagen rasten auf dem Highway 1 nach Norden.
    Michael O’Neil saß am Steuer seines zivilen MCSO-Fords und Dance neben ihm. Direkt hinter ihnen fuhr TJ in einem Taurus aus dem Fuhrpark des CBI, gefolgt von zwei Streifenwagen der Polizei von Monterey. Die Highway Patrol schickte ebenfalls mehrere Einheiten, und aus Watsonville, der nächstgelegenen Stadt, kam ihnen eine Streife entgegen.
    O’Neil fuhr fast hundertdreißig, mehr war bei dem dichten Verkehr und der teilweise nur zweispurigen Straße nicht drin. Zudem hatten die Fahrzeuge keine Sirenen eingeschaltet, lediglich die Signalleuchten.
    Sie waren unterwegs zu dem Ort, an dem sie Daniel Pell und seine blonde Komplizin vermuteten, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit soeben gemütlich zu Mittag aßen.
    Dance hatte daran gezweifelt, dass Pell tatsächlich nach Utah wollte. Ihre Intuition hatte sie gewarnt, dass es sich hierbei genauso um eine falsche Fährte handelte wie bei den Hinweisen auf Mexiko. Immerhin hatten Rebecca und Linda nie gehört, dass Pell von dem Bundesstaat erzählte. Und das Mobiltelefon war auffallend nah bei dem Honda weggeworfen worden. Vor allem aber hatte Pell den Fahrer am Leben gelassen, damit dieser der Polizei von dem Telefon erzählen konnte, und sogar in dessen Hörweite ein Gespräch geführt. Das vermeintliche Sexspielchen, zu dem er Billy gezwungen hatte, sah auf den ersten Blick zwar wie eine Erklärung für dessen Überleben aus, aber Dance war der Ansicht, dass kein noch so verrückter Ausbrecher seine Zeit mit einem derartigen Pornoquatsch verschwenden würde.
    Dann hatte der Computertechniker aus Capitola sich gemeldet und ihr die Nachricht vorgelesen, die von der Komplizin im »Manslaughter«-Forum, Unterforum »Helter Skelter«, hinterlassen worden war: Paket wird gegen 9.20 geliefert. WWE-Transporter am San Benito um 9.50. Orangefarbenes Band an Ast von Kiefer. Treffen uns vor vereinbartem Feinkostladen.
    So lautete der erste Teil der Botschaft, eine Bestätigung des Fluchtplans. Was Dance jedoch überrascht hatte, war der letzte Satz.
    Zimmer ist bereit; überprüfe die gewünschten Orte rund um Monterey. Dein Liebling.
    Was zur allgemeinen Verwunderung darauf hindeutete, dass Pell eventuell in der Nähe bleiben würde.
    Dance und O’Neil konnten es sich nicht erklären. Es war Wahnsinn.

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