Die Menschenleserin
versuchte, ihn nicht damit in Berührung kommen zu lassen – was ziemlich schwierig für eine Frau war, die ihren Lebensunterhalt mit der Jagd auf Schwerverbrecher verdiente. »Solange das Hühnchen gekocht wurde, kann gar nichts passieren«, verkündete sie nun. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob das stimmte, und fragte sich, ob Maggie ihr widersprechen würde.
Aber ihre Tochter hatte sich in das Muschelbuch vertieft.
»Oh, Kartoffelbrei gibt’s auch«, sagte der Junge. »Du bist klasse, Mom.«
Maggie und Wes deckten den Tisch und trugen das Essen auf, während Dance sich die Hände wusch.
»Mom, willst du dich gar nicht umziehen?«, fragte Wes, als sie aus dem Badezimmer zurückkam. Er sah ihr schwarzes Kostüm an.
»Ich bin am Verhungern. Das kann warten.« Sie verschwieg den wahren Grund: Sie wollte ihre Waffe nicht ablegen. Normalerweise zog sie sich zu Hause sofort Jeans und T-Shirt an und verstaute die Pistole in der Kassette neben ihrem Bett.
Ja, das Leben als Cop ist hart. Die Kleinen sind oft allein, nicht wahr? Bestimmt freuen sie sich über ein paar neue Spielkameraden ...
Wes musterte noch einmal ihr Kostüm, als wüsste er genau, was sie dachte.
Aber dann fingen sie an zu essen und unterhielten sich über ihren Tag – zumindest über den der Kinder. Dance erzählte selbstverständlich nichts von ihren Erlebnissen. Wes nahm derzeit tagsüber an einem Tennislager in Monterey teil, Maggie an einem Musiklager in Carmel. Jeder der beiden schien Spaß daran zu haben. Gott sei Dank fragte keiner von ihnen nach Daniel Pell.
Nach dem Essen räumten sie gemeinsam den Tisch ab und erledigten den Abwasch – die Kinder mussten im Haushalt stets einen Teil der Arbeit übernehmen. Dann gingen Wes und Maggie ins Wohnzimmer, um zu lesen oder Videospiele zu spielen.
Dance schaltete ihren Computer ein und sah im Postfach nach. Keine der E-Mails betraf den aktuellen Fall, aber es waren einige Nachrichten zu ihrem anderen »Job« eingetroffen. Sie und ihre beste Freundin, Martine Christensen, betrieben eine Internetseite namens »American Tunes«, benannt nach dem berühmten Paul-Simon-Song aus den siebziger Jahren.
Kathryn Dance war keine schlechte Musikerin, aber der kurze Versuch, eine Laufbahn als Sängerin und Gitarristin einzuschlagen, hatte ihr kein besonderes Vergnügen bereitet (und ihre Auftritte dem Publikum auch nicht, fürchtete sie). Sie kam zu dem Schluss, dass ihre wahre Begabung darin lag, sich Musik anzuhören – womit sie auch wesentlich größeren Erfolg hatte und wozu sie andere Menschen anzuregen verstand.
Während ihrer seltenen Urlaube oder an langen Wochenenden begab sie sich auf die Suche nach einheimischer Musik, oft mit den Kindern und Hunden im Schlepptau. Leute wie sie wurden »Folkloristen« oder einfach »Liederjäger« genannt. Alan Lomax war vermutlich der bekannteste von ihnen; er hatte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für die Kongressbibliothek Musik von Louisiana bis zu den Appalachen gesammelt. Während sein Geschmack sich hauptsächlich auf schwarzen Blues und Bergmusik erstreckt hatte, widmete Dance sich einem anderen Feld und damit Orten, an denen sich die wechselnde Gesellschaftsstruktur Nordamerikas widerspiegelte: Musik aus den Kulturen der Latinos, der Karibik, der Gegend um Nova Scotia, Kanadas, der urbanen Afroamerikaner und der Indianer.
Sie und Martine halfen den Musikern, die Werke urheberrechtlich schützen zu lassen. Auf ihrer Internetseite konnten die Lieder gegen Gebühr heruntergeladen werden, und die damit erzielten Gewinne wurden direkt an die Künstler weitergeleitet.
Dance wusste: Wenn einmal der Tag kam, an dem sie nicht mehr gewillt oder in der Lage war, Verbrecher zu jagen, würde die Musik eine gute Beschäftigung für ihren Ruhestand darstellen.
Ihr Telefon klingelte. Sie las im Display die Kennung des Anrufers.
»Wen haben wir denn da?«
»Hallo«, sagte Michael O’Neil. »Wie ist es bei Reynolds gelaufen?«
»Nicht sonderlich ergiebig. Aber er geht seine alten Akten zum Fall Croyton noch einmal durch.« Sie fügte hinzu, dass sie außerdem das Material von Morton Nagle abgeholt habe, aber noch nicht dazu gekommen sei, einen Blick darauf zu werfen.
O’Neil teilte ihr mit, dass der in Moss Landing gestohlene Focus noch nicht wieder aufgetaucht sei und Jack’s Seafood keine weiteren Anhaltspunkte ergeben habe. Die Spurensicherung hatte von dem Thunderbird und dem benutzten Geschirr Fingerabdrücke genommen. Die von Pell
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