Die Menschenleserin
ich könnte eine Zusammenfassung für Sie anfertigen, falls Sie wünschen. Drei, vier Seiten?«
»Das wäre großartig. Ich würde ewig brauchen, die Angaben aus all diesen Unterlagen zusammenzutragen.«
» All diese Unterlagen?« Er kicherte. »Das ist doch gar nichts. Bis ich so weit bin, mit dem Buch anzufangen, habe ich fünfzigmal mehr Notizen und Quellenmaterial. Aber wie dem auch sei, ich schreib Ihnen gern etwas auf.«
»Hallo«, meldete sich eine junge Stimme.
Dance lächelte Sonja zu, die in der Türöffnung stand.
Ein neidischer Blick auf Kathryns Figur, dann auf ihren Zopf.
»Ich habe gesehen, wie Sie zu meinen Zeichnungen geschaut haben. Als Sie hereingekommen sind.«
»Schatz, Agent Dance hat zu tun.«
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Möchten Sie sich die Bilder ansehen?«
Dance kniete sich hin und nahm den Zeichenblock. Es waren Bilder von Schmetterlingen, und zwar überraschend gute.
»Sonja, die sind ja wunderschön. Die könnten auch in einer Galerie am Ocean Drive in Carmel hängen.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Absolut.«
Sonja blätterte eine Seite zurück. »Den hier mag ich am liebsten. Es ist ein Schwalbenschwanz.«
Das Bild zeigte einen dunkelblau schillernden Schmetterling.
»Er sitzt auf einer mexikanischen Sonnenblume. Da kann er Nektar trinken. Zuhause gehen wir oft in die Wüste, und ich zeichne Eidechsen und Kakteen.«
Dance erinnerte sich, dass der Autor eigentlich in Scottsdale wohnte.
»Hier gehen meine Mama und ich in den Wald und machen Fotos«, fuhr das Mädchen fort. »Dann zeichne ich sie ab.«
»Sie ist der James Audubon der Schmetterlinge«, sagte Nagle.
Joan kam und führte das Mädchen aus dem Zimmer.
»Glauben Sie, das Zeug wird Ihnen weiterhelfen?«, fragte Nagle und wies auf den Karton.
»Keine Ahnung. Ich hoffe es jedenfalls. Wir können etwas Hilfe gut gebrauchen.«
Dance verabschiedete sich, lehnte eine weitere Einladung zum Abendessen ab und kehrte zu ihrem Wagen zurück.
Dort stellte sie den Karton auf den Beifahrersitz. Die Fotokopien machten sie neugierig, und sie war versucht, die Innenbeleuchtung einzuschalten und einen ersten Blick auf das Material zu werfen. Doch das würde warten müssen. Kathryn Dance war eine gute Ermittlerin, genau wie sie eine gute Reporterin und eine gute Beraterin bei der Geschworenenauswahl gewesen war. Aber sie war auch eine Mutter und eine Witwe. Und die einzigartige Mischung dieser beiden Rollen machte erforderlich, dass sie wusste, wann sie die andere Arbeit ruhen lassen musste. Nun war es an der Zeit, nach Hause zu fahren.
... Neunzehn
Sie nannten es das Deck.
Eine sechs mal neun Meter große Fläche aus grauem versiegeltem Holz erstreckte sich hinter Dances Haus von der Küche in Richtung Garten. Darauf standen unterschiedliche Stühle, Liegen und Tische. Winzige Weihnachtslichterketten, einige bernsteinfarbene Kugellampen, ein Spülbecken und ein großer Kühlschrank waren der hauptsächliche Zierrat, dazu ein paar halb vertrocknete Pflanzen in Terrakottatöpfen. Eine schmale Treppe führte hinunter in den kaum gestalteten, sehr naturbelassenen Garten: Hier wuchsen kleine Eichen und Ahornbäume, Gauklerblumen, Astern, Lupinen, diverse Kletterpflanzen, Klee und jede Menge Gras.
Ein Lattenzaun trennte das Grundstück von den Nachbarn ab. An einem Ast neben der Treppe hingen zwei Vogelbäder und ein Futterhäuschen für Kolibris. Zwei Windspiele lagen immer noch dort am Boden, wo Dance – im Pyjama – sie vor einem Monat in einer besonders stürmischen Nacht um drei Uhr morgens hingeworfen hatte.
Das klassisch-viktorianische Haus – dunkelgrün mit grauen verwitterten Geländern, Fensterläden und Zierleisten – stand im nordwestlichen Teil von Pacific Grove; sofern man bereit war, sich gefährlich weit vorzubeugen, konnte man einen Blick auf den knapp einen Kilometer entfernten Ozean erhaschen.
Dance verbrachte viel Zeit auf dem Deck. Oft war es zu kalt oder dunstig für ein frühes Frühstück, aber an manch faulem Wochenende, wenn die Sonne den Nebel weggeschmolzen hatte, kamen sie und die Kinder her, nachdem sie mit den Hunden einen Strandspaziergang unternommen hatten, und gönnten sich Bagels und Rahmkäse, Kaffee und heiße Schokolade. Auf den ungleichmäßigen Bohlen hatten schon Hunderte von großen und kleinen Dinnerpartys stattgefunden.
Hier auf dem Deck hatte Bill, ihr Ehemann, seinen Eltern entschlossen mitgeteilt, dass er, jawohl, Kathryn Dance heiraten würde und demnach
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