Die Menschenleserin
nicht. Er schreibt uns einen kurzen biographischen Abriss.«
Sie gingen eine Stunde lang die Fotokopien durch und hielten nach Verweisen auf Orte oder Personen Ausschau, die für Pell in der näheren Umgebung interessant sein und ihn veranlasst haben könnten, auf der Halbinsel zu bleiben. Die Begriffe ›Alison‹ oder ›Nimue‹ tauchten nirgendwo auf.
Auch sonst fand sich nichts.
Die meisten der Videobänder enthielten Fernsehberichte über Pell, die Croyton-Morde oder Croyton persönlich, den extravaganten, außergewöhnlichen Unternehmer aus dem Silicon Valley.
»Sensationsgeiler Mist«, verkündete O’Neil.
» Seichter sensationsgeiler Mist.« Genau das, was Morton Nagle an der Berichterstattung über Verbrechen und Konflikte zu beanstanden hatte.
Aber es waren auch zwei Mitschnitte von Polizeiverhören darunter, die Dance etwas aufschlussreicher fand. Das erste war vor dreizehn Jahren nach einer Festnahme Pells wegen Einbruchs erfolgt.
»Wer sind Ihre nächsten Angehörigen, Daniel?«
»Ich habe keine. Keine Familie.«
»Und Ihre Eltern?«
»Weg. Längst weg. Ich bin Waise, könnte man sagen.«
»Wann sind sie gestorben?«
»Als ich siebzehn war. Aber mein Vater war schon vorher
abgehauen.«
»Kommen Sie und Ihr Vater miteinander aus?«
»Mein Vater... Das ist so eine Sache.«
Pell erzählte dem Beamten von seinem gewalttätigen Vater, der den kleinen Daniel gezwungen hatte, ab dem dreizehnten Geburtstag Miete zu bezahlen. Wenn der Junge das Geld nicht aufbringen konnte, bekam er Schläge – und die Mutter ebenfalls, falls sie ihren Sohn verteidigte. Das sei der Grund, weshalb er mit dem Stehlen angefangen habe, sagte Pell. Schließlich hatte der Vater die beiden verlassen. Zufälligerweise waren die getrennten Eltern dann im selben Jahr gestorben – die Mutter an Krebs, der Vater bei einem alkoholbedingten Verkehrsunfall. Mit siebzehn stand Pell ganz allein da.
»Und keine Geschwister?«
»Nein, Sir… Ich dachte immer, falls ich jemanden gehabt
hätte, um die Last mit ihm zu teilen, wäre etwas anderes aus
mir geworden... Und ich selbst habe auch keine Kinder.
Leider, muss ich sagen... Aber ich bin noch jung. Ich habe noch
Zeit, oder?«
»Oh, sofern Sie Ihre Sachen geregelt kriegen, Daniel, spricht
absolut nichts dagegen, dass Sie eine eigene Familie gründen
könnten.«
»Danke, dass Sie das sagen, Officer. Ehrlich. Vielen Dank. Und
was ist mit Ihnen, Sir? Haben Sie Familie? Wie ich sehe, tragen
Sie einen Ehering.«
Das zweite Band stammte aus einer Kleinstadt im Central Valley, wo man Pell vor zwölf Jahren wegen Diebstahls verhaftet hatte.
»Daniel, hören Sie gut zu. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Lügen Sie uns lieber nicht an, okay? Das könnte mächtig ins Auge gehen.«
»Nein, Sir, Sheriff. Ich werd ganz ehrlich sein und nur die Wahrheit sagen, bei Gott.« »In dem Fall werden wir beide uns gut verstehen. Also, wie kommt es, dass man Jake Peabodys Fernseher und Videorekorder hinten in Ihrem Wagen gefunden hat?« »Ich hab sie gekauft, Sheriff. Ich schwöre. Auf der Straße, von diesem Mexikaner. Er kam an und sagte, er brauche etwas Geld. Er und seine Frau hätten ein krankes Kind, hat er erzählt.«
»Siehst du, was er macht?«, fragte Dance.
O’Neil schüttelte den Kopf.
»Der erste Beamte ist intelligent. Wortschatz, Grammatik und Satzbau sind einwandfrei. Pell antwortet ihm in genau der gleichen Weise. Der zweite Beamte ist ein etwas schlichteres Gemüt und nicht so gebildet wie der erste. Pell greift das auf und passt sich ihm an. Das ist ein typischer Trick der Machiavellisten.«
Sie wies auf den Fernseher. »Pell hat beide Verhöre vollständig unter Kontrolle.«
»Ich weiß nicht. Ich würde ihm für das rührselige Zeug bloß eine Zwei minus geben«, wandte O’Neil ein. »Mitleid habe ich jedenfalls nicht mit ihm bekommen.«
»Mal sehen.« Dance suchte die zugehörigen Berichte heraus, die Nagle den Videokassetten beigelegt hatte. »Tut mir leid, Professor. Bei den anderen hat es gewirkt. Im ersten Fall wurde die Anklage von Einbruchdiebstahl zu Hehlerei gemindert und die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Und im zweiten Fall kam er sogar ganz ohne Anklage wieder auf freien Fuß.«
»Da habe ich mich wohl geirrt.«
Sie sichteten das Material noch eine weitere halbe Stunde lang, fanden aber nichts Verwertbares mehr.
O’Neil sah auf die Uhr. »Ich muss los.« Er stand müde auf, und Dance begleitete ihn nach draußen. Er kraulte den
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