Die Menschenleserin
logischerweise nicht die wohlhabende junge Dame aus Napa, die seine Mutter ihm jahrelang angepriesen hatte. Für diese Eröffnung hatte er mehr Mut aufbringen müssen als für den Großteil seiner Arbeit beim FBI.
Hier auf dem Deck hatten sie die Gedenkfeier für ihn abgehalten.
Es war außerdem ein Treffpunkt für Freunde sowohl innerhalb als auch außerhalb der Strafverfolgungsbehörden der Halbinsel.
Kathryn Dance pflegte ihre Freundschaften, aber nach Bills Tod hatte sie beschlossen, ihre freie Zeit nicht ohne die Kinder zu verbringen. Und da sie Maggie und Wes nicht zu den Erwachsenen in Bars oder Restaurants mitnehmen wollte, holte sie die Freunde stattdessen in die Welt der Kinder.
In dem Außenkühlschrank fanden sich Bier und Limonade sowie in der Regel ein oder zwei Flaschen kalifornischer Chardonnay, Pinot Grigio oder Cabernet. Ein fleckiger und verrosteter, aber voll funktionsfähiger Grill stand ebenfalls hier, und unten gab es ein Badezimmer, das vom Garten aus zugänglich war. Nicht selten kam Dance nach Hause und traf auf dem Deck ihre Mutter oder ihren Vater an oder auch Freunde und Kollegen aus dem CBI oder MCSO, die bei einem Bier oder Kaffee zusammensaßen.
Alle waren willkommen, ob Kathryn nun zu Hause war oder nicht, und gleichgültig, ob die Besucher sich vorher angekündigt hatten. Allerdings konnte es vorkommen, dass Dance anwesend war und sich trotzdem nicht zu ihnen gesellte. Eine stillschweigende, aber allseits bekannte Regel besagte, dass die Leute sich zwar jederzeit draußen aufhalten durften, das eigentliche Haus aber tabu war, es sei denn bei geplanten Partys; die Privatsphäre, der Schlaf und die Schularbeiten waren heilig.
Dance stieg nun die steile Treppe neben dem Haus empor und betrat das Deck. Sie trug den Karton voller Fotokopien und Videokassetten, auf dem zusätzlich noch das warme Abendessen stand, das sie bei Albertsons gekauft hatte. Zunächst wurde sie von den Hunden begrüßt, einem schwarzen Retriever mit glattem Fell und einem schwarzbraunen Deutschen Schäferhund. Sie rieb ihnen die Ohren, ließ sie ein paar zerbissene ausgestopfte Spielzeuge apportieren und ging dann weiter zu den beiden Männern, die auf den Plastikstühlen saßen.
»Hallo, Schatz.« Stuart Dance, groß und breitschultrig, mit dichtem, widerspenstigem weißem Haar, war siebzig, sah aber jünger aus, wenngleich die Jahre auf See und am Meer nicht spurlos an seiner Haut vorübergegangen waren und auch der Hautarzt mit Skalpell und Laser einige Narben hinterlassen hatte. Genau genommen war Stuart pensioniert, aber er arbeitete immer noch an mehreren Tagen der Woche im Aquarium, und nichts auf der Welt hätte ihn von den felsigen Untiefen der Küste fernhalten können.
Er und seine Tochter drückten die Wangen aneinander.
»Hallo.« Das kam von Albert Stemple, einem ihrer Kollegen beim CBI. Der kräftige Mann mit dem kahl geschorenen Kopf trug Stiefel, Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Auch er hatte Narben im Gesicht und angeblich auch an anderen Stellen – die nur selten die Sonne zu sehen bekamen -, aber ein Hautarzt war nicht dafür verantwortlich. Er hatte die Beine ausgestreckt und trank ein Bier. Das CBI war nicht unbedingt für seine Cowboys bekannt, besaß mit Albert Stemple aber einen starrsinnigen und kompromisslosen Wild Bill Hickock. Kein Agent hatte mehr Festnahmen vorzuweisen – und mehr offizielle Beschwerden (auf die Albert besonders stolz war).
»Danke, dass du aufgepasst hast, Al. Tut mir leid, es ist später geworden als geplant.« Angesichts der Drohungen, die Pell während des Verhörs ausgestoßen hatte – und weil er in der Gegend blieb -, hatte Dance den Kollegen gebeten, ihren Vater und die Kinder im Auge zu behalten, bis sie nach Hause kam. (O’Neil hatte außerdem veranlasst, dass hier regelmäßig eine Streife vorbeifahren würde, solange der Ausbrecher auf freiem Fuß war.)
»Kein Problem«, ächzte Stemple. »Overby spendiert mir ein Abendessen.«
»Hat Charles das gesagt?«
»Nein, aber er wird die Rechnung übernehmen. Hier war alles ruhig. Ich hab ein paar Runden ums Grundstück gedreht. Nichts Ungewöhnliches.«
»Möchtest du eine Limo für unterwegs?«
»Gern.« Der massige Mann nahm sich zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. »Keine Angst. Die trink ich aus, bevor ich ins Auto steige. Bis dann, Stu.« Er stampfte über das Deck, das unter seinem Gewicht knarrte.
Dann verschwand er die Treppe hinunter. Fünfzehn Sekunden später hörte Dance, wie
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