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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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konnten, waren die beiden unterwegs zum Hinterzimmer.
    Dort, vor dem offenen Fenster, erwartete sie der Gesandte. Er hatte gewusst, dass es nur einen Fluchtweg für sie gab. Nach hinten hinaus, zum Wasser.
    »Den Spiegel!«, rief Merle Serafin zu.
    Er warf ihn zu ihr herüber, und sie fing ihn mit beiden Händen auf, packte ihn am Griff und schlug damit nach dem Gesandten. Geschickt wich er aus, gab dabei aber auch den Weg zum Fenster frei. Seine versengten Fingerspitzen rauchten noch immer.
    »Die Karaffe!«, verlangte er mit zischelnder Stimme. »Ihr stellt euch gegen den Pharao!«
    Serafin stieß ein tollkühnes Lachen aus, das selbst Merle überraschte. Dann schlug er aus dem Stand eine Rolle in der Luft, die ihn an dem Gesandten vorübertrug, zwischen seinen zupackenden Händen hindurch. Er kam sicher im Fensterrahmen auf und saß da wie ein Vogel, mit beiden Füßen im Rahmen, die Knie angezogen, und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
    »Alle Ehre der Fließenden Königin!«, rief er aus, während Merle den Augenblick nutzte und an seine Seite sprang. »Mir nach!«
    Damit ließ er sich rückwärts aus dem Fenster fallen, dem Wasser des stillen Kanals entgegen.
    Es war nicht wirklich seine Hand, die Merle mit sich zog; es waren seine Begeisterung, sein purer Wille, nicht aufzugeben. Zum ersten Mal spürte sie Bewunderung für einen anderen Menschen.
    Der Gesandte kreischte und bekam den Saum von Merles Kleid zu fassen, doch es waren die Finger seiner verätzten Hand, und er ließ gleich wieder los und brüllte wie am Spieß.
    Das Wasser war eisig. Innerhalb eines einzigen Herzschlags schien es ihre Kleidung, ihr Fleisch, ihren ganzen Körper zu durchdringen. Merle konnte nicht mehr atmen, sich nicht bewegen, nicht einmal denken. Im Nachhinein wusste sie nicht, wie lange dieser Zustand angehalten hatte - es kam ihr vor wie Minuten -, doch dann tauchte sie auf, Serafin war neben ihr, und das Leben kehrte zurück in ihre Glieder. Sie konnte höchstens ein paar Sekunden unter der Oberfläche gewesen sein.
    »Hier, nimm das!« Unter Wasser drückte er ihr die Karaffe in die linke Hand. In der Rechten hielt sie noch immer den Spiegel, er lag zwischen ihren Fingern wie festgewachsen.
    »Was soll ich damit?«
    »Wenn es hart auf hart kommt, lenke ich sie ab«, sagte Serafin und spuckte Wasser. Die Wellen schlugen ihm gegen die Lippen.
    Hart auf hart?, dachte Merle. Noch härter?
    Der Gesandte erschien im Fenster und rief etwas.
    Serafin stieß einen Pfiff aus. Es gelang erst beim zweiten Versuch, vorher sprühte nur Wasser von seinen Lippen. Merle folgte seinem Blick zum Fenster, dann sah sie, wie schwarze Umrisse von oben herabhuschten, vierbeinige Schatten, die aus Löchern und Nischen und Dachrinnen sprangen, kreischend und miauend, mit ausgefahrenen Krallen, die sie in die Robe des Gesandten schlugen. Eine Katze kam auf dem Fensterbrett auf, stieß sich gleich wieder ab und verschwand komplett im Dunkel der Kapuze. Schreiend stolperte der Ägypter rückwärts ins Zimmer.
    »Harmlose Diebeslist!«, bemerkte Serafin süffisant.
    »Wir müssen aus dem Wasser!« Merle drehte sich um und ließ dabei den Spiegel in die Tasche ihres Kleides gleiten, zusammen mit der Karaffe, an die sie im Augenblick keinen weiteren Gedanken verschwendete. Sie machte ein paar Schwimmstöße in die Richtung des gegenüberliegenden Ufers. Dort reichten die Mauern in den Kanal, und es gab keinen Halt, um sich ins Trockene zu ziehen. Egal, sie musste irgendetwas tun!
    »An Land?«, wiederholte Serafin und blickte zum Himmel. »Sieht so aus, als würde sich das gleich von selbst erledigen.«
    Atemlos wandte sich Merle um, viel zu langsam, weil das Kleid sie im Wasser behinderte. Endlich sah sie, was er meinte.
    Zwei Löwen stießen mit ausgebreiteten Schwingen auf sie herab, steil von oben aus der Schwärze der Nacht.
    »Tauch unter!«, schrie sie und sah nicht mehr, ob Serafin ihrer Aufforderung nachkam. Sie selbst hielt den Atem an und glitt unter Wasser, spürte die salzige Kälte auf ihren Lippen, den Druck in Ohren und Nase. Etwa drei Meter mochte der Kanal tief sein, und sie wusste, dass sie mindestens die Hälfte davon zwischen sich und die Krallen der Löwen bringen musste.
    Sie sah und hörte nicht, was um sie herum geschah, drehte sich in die Waagerechte und tauchte mit ein paar heftigen Stößen den Kanal entlang. Vielleicht schaffte sie es, wenn sie eine der alten Verladetüren erreichte.
    Damals, als Venedig noch eine

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