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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bedeutende Handelsstadt gewesen war, hatten die Kaufleute ihre Waren von den Kanälen aus in ihre Häuser bringen lassen, durch Türen, die auf Höhe des Wasserspiegels lagen. Heute mochten viele dieser Häuser leer stehen, ihre Besitzer längst tot sein, doch die Türen existierten noch immer, verrottet zumeist, zerfressen vom Wasser und vom Salz. Oft war ihr unteres Drittel weggefault. Für Merle boten sie eine ideale Möglichkeit zur Flucht.
    Und Serafin?
    Sie konnte nur beten, dass er hinter ihr war, nicht zu weit oben, wo die Löwenpranken ihn auch im Wasser würden packen können. Steinlöwen sind wasserscheu, sind es schon immer gewesen, und die letzten fliegenden Exemplare ihrer Art sind keine Ausnahmen. Ihre Krallen mögen sie ins Wasser strecken, aber niemals, niemals würden sie selbst eintauchen. Merle kannte diese Schwäche der Löwen, und sie hoffte mit aller Kraft, dass auch Serafin sich dessen bewusst war.
    Allmählich ging ihr die Luft aus, und in ihrer Not sandte sie ein Stoßgebet an die Fließende Königin. Dann fiel ihr ein, dass die Königin sich in einer Karaffe in der Tasche ihres Kleides befand, gefangen wie ein Flaschengeist und vermutlich so hilflos wie sie selbst.
    Die Essenz der Fließenden Königin, hatte der Rat gesagt.
    Wo war Serafin? Und wo eine Tür?
    Ihre Sinne schwanden. Die schwarze Umgebung schien sich um sie zu drehen, und ihr war, als fiele sie tiefer und tiefer, während sie in Wahrheit nach oben trieb, der Oberfläche entgegen.
    Dann brach sie durch. Luft strömte in ihre Lungen. Sie riss die Augen auf.
    Sie war weiter gekommen, als sie gehofft hatte. Ganz in der Nähe war tatsächlich eine Tür, kantig und zersplittert, wo das Wasser wieder und wieder am Holz geleckt und es schließlich zerfressen hatte. Die obere Hälfte hing unbeschadet in den Angeln, darunter aber klaffte ein schwarzer Schlund ins Innere des Hauses. Das verfaulte Holz sah aus wie Kiefer eines Seeungeheuers, eine Reihe scharfer Spitzen, geborsten und von Algen und Schimmel grün gefärbt.
    » Merle !«
    Serafins Stimme ließ sie im Wasser herumwirbeln. Was sie sah, lähmte sie von Kopf bis Fuß; beinahe wäre sie untergegangen.
    Einer der Löwen schwebte über dem Wasser und hielt den triefenden Serafin in den Vorderpranken, wie einen Fisch, den er gepackt und aus den Fluten gerissen hatte.
    »Merle!«, brüllte Serafin noch einmal. Sie erkannte jetzt, dass er sie gar nicht sah, dass er nicht wusste, wo sie war und ob sie noch lebte. Er hatte Angst um sie. Er fürchtete, sie wäre ertrunken.
    In ihr schrie es danach, ihm zu antworten, die Aufmerksamkeit der Löwen auf sich zu lenken, um ihm so vielleicht die Gelegenheit zur Flucht zu geben.
    Aber damit betrog sie sich nur selbst. Kein Löwe lässt los, was er einmal gefangen hat.
    Schon vollzog die Bestie mit gezieltem Flügelschlag eine Drehung, entfernte sich und stieg nach oben, den wehrlosen Serafin fest unter ihren Körper gepresst.
    »Merle, wo immer du bist«, brüllte Serafin mit leiser werdender Stimme. »Du musst fliehen! Versteck dich! Rette die Fließende Königin!«
    Dann lösten sich Löwe, Reiter und Serafin in der Nacht auf wie eine Aschewolke, die der Wind zerstäubt.
    Merle tauchte unter. Ihre Tränen wurden eins mit dem Kanal, wurden eins mit ihm wie Merle selbst. So lange, bis sie durch das hölzerne Zahnmaul tauchte, durch die verfaulte Tür in noch tiefere Schwärze; bis sie sich in der Finsternis ins Trockene zog, sich zusammenkrümmte wie ein kleines Kind, einfach nur dalag und weinte.
    Atmete und weinte.

Ende und Anfang

    Die Fließende Königin sprach zu ihr.
    » Merle «, sagte ihre Stimme. » Merle, hör mir zu!«
    Merle fuhr auf, ihr Blick raste suchend durch die Dunkelheit. Der alte Laderaum roch nach Nässe und verfaultem Holz. Der einzige Lichtschein fiel durch die zerstörte Tür vom Kanal herein. In der Luft lag ein Flirren und Flimmern - jemand suchte dort draußen die Wasseroberfläche mit Fackeln ab!
    Sie musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.
    »Du träumst nicht, Merle.«
    Die Worte waren in ihr, die Stimme sprach zwischen ihren Ohren.
    »Wer bist du?«, flüsterte sie und sprang auf die Füße.
    »Du weißt, wer ich hin. Hab keine Angst vor mir.«
    Merles Hand zog den Spiegel aus der Tasche ihres Kleides und hielt ihn in den zuckenden Feuerschein.
    Die Oberfläche war glatt, der Schemen nirgends zu sehen. Aber sie ahnte auch so, dass nicht er es war, der zu ihr sprach. Rasch ließ sie den Spiegel

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