Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
zurück in ihr Kleid gleiten und nahm die Karaffe heraus. Sie passte bequem in ihre Hand.
»Du?« Wenn sie nur in einzelnen Wörtern sprach, nicht in ganzen Sätzen, würde vielleicht nicht auffallen, wie sehr ihre Stimme schwankte.
»Du musst fort von hier. Sie werden alle Häuser durchsuchen, die an den Kanal grenzen. Und danach den Rest des Viertels.«
»Was ist mit Serafin?«
»Er ist jetzt ein Gefangener der Garde.«
»Sie werden ihn umbringen!«
»Vielleicht. Aber nicht sofort. Das hätten sie schon im Wasser tun können. Sie werden versuchen herauszubekommen, wer du bist und wo sie dich finden können.«
Merle schob die Karaffe zurück in die Tasche und tastete sich durchs Dunkel. Sie fror erbärmlich in ihrem nassen Kleid, aber ihre Gänsehaut hatte nichts mit der Temperatur zu tun.
»Bist du die Fließende Königin?«, fragte sie leise.
»Willst du mich so nennen? Königin?«
»Erst einmal will ich nur weg von hier.«
»Dann sollten wir das in Angriff nehmen.«
»Wir? Ich seh hier nur eine, die Beine hat, um darauf wegzulaufen.«
Im Dunkeln fand sie eine Tür, die tiefer ins Haus führte. Sie schlüpfte hindurch und stand alsbald in einer verlassenen Eingangshalle. Boden und Treppengeländer waren mit hohem Staub bedeckt. Merles Füße hinterließen Spuren im Schmutz wie in einer Schneedecke. Ihren Verfolgern würde es nicht schwer fallen, ihre Fährte aufzunehmen.
Die Haustür war von außen vernagelt, wie viele Türen Venedigs in diesen Zeiten, aber sie fand ein Fenster, dessen Scheibe sie mit dem abgefallenen Kopf einer Statue einschlagen konnte. Wie durch ein Wunder zerschnitt sie sich beim Hinausklettern weder Hände noch Knie.
Was nun? Am besten zurück zum Kanal der Ausgestoßenen. Arcimboldo würde wissen, was zu tun war. Oder Unke. Oder Junipa. Irgendjemand! Sie konnte dieses Geheimnis nicht allein mit sich herumtragen.
»Wenn dein Freund redet, werden sie dich dort zuerst suchen«, warnte die Stimme unvermittelt.
»Serafin verrät mich nicht«, gab sie erbost zurück. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Er hat geschworen, mich niemals im Stich zu lassen.
Sie dagegen hatte tatenlos zugesehen, wie der Löwe ihn davontrug. Aber was hätte sie denn auch tun können?
»Nichts« , sagte die Stimme. »Du warst hilflos. Bist es noch immer.«
»Liest du meine Gedanken?«
Darauf bekam sie keine Antwort, was wiederum Antwort genug war.
»Lass das sein«, sagte sie scharf. »Ich habe dich gerettet. Du bist mir was schuldig.«
Weiterhin Schweigen. Hatte sie die Stimme verärgert? Umso besser, dann würde sie sie vielleicht in Frieden lassen. Es war schwer genug, für einen allein zu denken. Sie brauchte keine innere Stimme, die jeden ihrer Entschlüsse in Frage stellte.
Vorsichtig lief sie eine Gasse hinunter, hielt wieder und wieder inne, horchte auf Verfolger und verdächtige Laute. Auch den Himmel behielt sie im Auge, obgleich er noch immer so dunkel war, dass sich dort oben ein ganzer Schwarm von Löwen hätte tummeln können. Bis zum Sonnenaufgang würden noch Stunden vergehen.
Bald wusste sie, wo sie sich befand: nur wenige Ecken vom Campo San Polo entfernt. Sie hatte die halbe Strecke bis zur Werkstatt zurückgelegt. Nicht mehr weit, und sie war in Sicherheit.
»Keine Sicherheit«, widersprach die Stimme. »Nicht, solange der Junge ein Gefangener ist.«
Merle platzte der Kragen. »Was soll das?«, rief sie aus, und ihre Stimme hallte laut von den Mauern wider. »Was bist du? Meine Stimme der Vernunft?«
»Wenn du es willst, so bin ich auch das.«
»Ich will nur, dass du mich in Ruhe lässt!«
»Ich gebe dir Ratschläge, keine Befehle.«
»Ich brauche keinen Rat.«
»Ich fürchte, den brauchst du doch.«
Merle blieb stehen, schaute sich wütend um und fand einen Spalt in einem Bretterverschlag zwischen zwei Häusern. Sie musste diese Sache ein für alle Mal klären, hier und jetzt. Sie zwängte sich durch die Öffnung, zog sich tiefer in den dunklen Schacht zwischen den Häuserwänden zurück und ließ sich dann mit angezogenen Knien nieder.
»Du willst mit mir reden? Na gut, dann reden wir.«
» Wie du meinst.«
»Wer oder was bist du?«
»Ich denke, das weißt du bereits.«
»Die Fließende Königin?«
»Im Augenblick nur eine Stimme in deinem Kopf.«
Merle zögerte. Falls die Stimme wirklich der Königin gehörte, war es dann nicht angebracht, ein wenig respektvoller mit ihr umzugehen? Aber noch war sie voller Zweifel. »Du redest nicht wie eine Königin.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher