Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
anschlugen. Oder war es nur die Angst, die ihr den Magen umkrempelte?
Der Gesandte nahm die Schatulle entgegen und öffnete den Verschluss. Die Ratsherren wechselten unsichere Blicke.
Merle beugte sich weiter vor, um besser ins Innere des Kästchens sehen zu können. Auch Serafin bemühte sich, Genaueres zu erkennen.
Die Schatulle war mit Samt ausgelegt. Darauf lag eine kleine Karaffe aus Kristall, nicht länger als ein Finger. Der Gesandte nahm sie vorsichtig heraus und ließ das Kästchen achtlos fallen. Scheppernd krachte es auf den Boden. Die Räte zuckten bei dem Geräusch zusammen.
Mit Daumen und Zeigefinger hielt der Mann die Karaffe vor die Öffnung seiner Kapuze, geradewegs gegen das Licht der Kerzen.
»Nach all den Jahren, endlich!«, murmelte er gedankenverloren.
Merle sah Serafin verwundert an. Was war Wertvolles an einer so winzigen Karaffe?
Der Rat in Purpur hob die Hände zu einer feierlichen Geste. »Sie ist es, wahrhaftig. Die Essenz der Fließenden Königin. Der Zauber, den Ihr uns zur Verfügung gestellt habt, hat ein wahres Wunder bewirkt.«
Merle hielt die Luft an und tauschte einen alarmierten Blick mit Serafin.
»Die Alchimisten des Pharaos haben zweimal zehn Jahre daran gearbeitet«, sagte der Gesandte kühl. »Es gab nie einen Zweifel, dass der Zauber wirksam sein würde.«
»Natürlich nicht, natürlich nicht.«
Der Rat in Scharlach, der eben schon unangenehm aufgefallen war, trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Aber all Eure Zauberei hätte Euch nicht weitergeholfen, wenn wir uns nicht bereit erklärt hätten, sie in Gegenwart der Fließenden Königin auszuführen. Ein Diener des Pharaos wäre niemals so nah an sie herangekommen.«
Der Ton des Gesandten wurde lauernd. »So seid Ihr also kein Diener des Pharaos, Rat de Angeliis?«
Der Angesprochene wurde kreidebleich. »Gewiss bin ich das, gewiss, gewiss.«
»Ihr seid nichts als ein jämmerlicher Feigling. Und davon noch die schlimmste Sorte: ein Verräter!«
Trotzig rümpfte der Ratsherr die Nase. Er schüttelte die Hand ab, die ihm der Rat in Purpur beschwichtigend auf den Arm legen wollte. »Ohne uns wärt Ihr nie -«
»Rat de Angeliis!«, keifte der Gesandte, und nun klang er wie eine zornige alte Frau. »Ihr werdet den Lohn für Euren Freundschaftsdienst erhalten, falls das Eure Sorge ist. Spätestens wenn der Pharao mit seinen Armeen Einzug in die Lagune hält und Euch als seine Verwalter im Amt bestätigt. Doch jetzt, in Amenophis’ Namen, schweigt endlich still!«
»Mit Verlaub«, sagte der Rat in Purpur und achtete nicht auf den kläglich dreinschauenden de Angeliis, »Ihr solltet wissen, dass die Zeit drängt. Erneut hat ein Höllenbote sein Kommen angekündigt, um uns einen Pakt gegen das Imperium anzubieten. Ich weiß nicht, wie lange wir dem noch entgegenwirken können. Andere im Stadtrat sind diesem Angebot gegenüber aufgeschlossener als wir. Sie in Schach zu halten wird nicht ewig gelingen. Zumal der Bote erklärt hat, beim nächsten Mal in aller Öffentlichkeit zu erscheinen, damit auch das Volk von seinem Ansinnen erfährt.«
Der Gesandte stieß rasselnd die Luft aus. »Das darf nicht geschehen. Der Angriff auf die Lagune steht kurz bevor. Ein Pakt mit der Hölle könnte alles zunichte machen.« Er hielt kurz inne, um die Situation zu überdenken. »Falls dieser Bote tatsächlich erscheint, sorgt dafür, dass er sich nicht an das Volk wenden kann. Tötet ihn.«
»Und die Rache der Hölle -«, begann de Angeliis kleinlaut, doch der dritte Ratsherr brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Gewiss, Herr«, sagte der Rat in Gold mit einer Verbeugung in die Richtung des Gesandten. »Wie Ihr befehlt. Das Imperium wird uns vor allen Konsequenzen bewahren, wenn es die Stadt erst unter seine Kontrolle gebracht hat.«
Der Ägypter nickte huldvoll. »So sei es.«
Merles Lungen verlangten panisch nach Luft, keine Sekunde länger konnte sie ihren Atem anhalten. Das Geräusch war leise, kaum hörbar, und doch laut genug, um den Rat in Scharlach aufmerksam zu machen. Er blickte hinauf zum Loch in der Decke. Merle und Serafin gelang es gerade noch, die Köpfe einzuziehen. Deshalb hörten sie nur die weiteren Worte des Gesandten, konnten aber nicht sehen, was vor sich ging.
»Der Wüstenkristall der Karaffe ist stark genug, um die Fließende Königin zu binden. Ihre Regentschaft über die Lagune ist beendet. Ein Heer von vielen tausend Kriegern steht an Land und auf dem Wasser bereit. Sobald der
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