Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
gefallen. »Ich glaube nicht, dass Sie mich verstehen werden.«
»Darüber mach dir keine Sorgen. Ich will nur die Wahrheit hören.«
Sie atmete tief durch. »Ich bin gekommen, um mich zu bedanken. Und damit Sie wissen, dass es mir gut geht.«
»Das klingt, als wolltest du uns verlassen.«
»Ich gehe fort aus Venedig.«
Sie hatte mit allen möglichen Reaktionen auf diese Nachricht gerechnet: damit, dass er sie auslachen, beschimpfen oder einsperren würde. Nicht aber mit der Trauer, die jetzt seinen Blick verdüsterte. Keine Wut, keine Häme, nur schlichtes Bedauern. »Was ist geschehen?«
Sie erzählte ihm alles. Angefangen bei ihrer Begegnung mit Serafin über den Kampf in dem leer stehenden Haus bis zur Karaffe mit der Fließenden Königin und Serafins Gefangennahme. Sie beschrieb ihm die Roben und Gesichter der drei Verräter, und er nickte verdrossen bei jedem Einzelnen, so als wüsste er genau, um wen es sich handelte. Von der Stimme in ihrem Kopf sprach sie und, ein wenig beschämt, von der Tatsache, dass sie den Inhalt der Karaffe ausgetrunken hatte.
Nachdem sie geendet hatte, sank Arcimboldo bedrückt auf einen hölzernen Schemel. Mit einem Tuch tupfte er sich Schweiß von der Stirn, schnaubte kräftig hinein und warf es in die Ofenluke. Beide sahen zu, wie der Stoff von den Flammen verzehrt wurde. Sie schwiegen fast ein wenig andächtig, so als verbrannte dort noch etwas anderes: eine Erinnerung vielleicht, oder die Vorstellung dessen, was hätte sein können - ohne die Ägypter, ohne Verräter und das Zaubergift, das die Fließende Königin aus den Kanälen vertrieben hatte.
»Du hast Recht«, sagte Arcimboldo nach einer Weile. »Hier ist es nicht mehr sicher für dich. Nirgends in Venedig. Aber in dir kann die Fließende Königin die Lagune verlassen, denn du bist hier geboren und damit ein Teil von ihr.«
»Sie wissen viel mehr über sie, als Sie uns bisher erzählt haben«, stellte sie fest.
Er lächelte betrübt. »Ein wenig. Sie war immer ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Ohne sie wird es keine Zauberspiegel mehr geben.«
»Aber das würde bedeuten, dass .«
»Dass ich die Werkstatt früher oder später schließen muss. So ist es. Das Wasser der Lagune ist ein Bestandteil meiner Kunst. Ohne den Hauch der Fließenden Königin, der in jeden Spiegel fährt, sind alle meine Fähigkeiten nutzlos.«
Beklommenheit legte sich um Merles Herz. »Was ist mit den anderen? Mit Junipa und Boro und…« Ein Kloß saß in ihrem Hals. »Müssen sie zurück ins Heim?«
Arcimboldo dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das nicht. Aber wer weiß, was geschehen wird, wenn die Ägypter einmarschieren? Niemand kann das vorhersagen. Vielleicht gibt es Kämpfe. Dann werden sich die Jungen bestimmt auf die Seite der Verteidiger schlagen wollen.« Er rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Als ob das einen Zweck hätte.«
Merle wünschte sich, dass die Fließende Königin ihr eine Antwort darauf eingeben würde. Ein paar tröstende Worte, irgendetwas! Doch die Stimme in ihrem Inneren schwieg, und sie selbst wusste nicht, wie sie den Spiegelmacher hätte aufmuntern können.
»Sie müssen sich weiter um Junipa kümmern«, sagte sie. »Das müssen Sie mir versprechen.«
»Gewiss.« Aber in Merles Ohren klang die Zustimmung längst nicht so überzeugend, wie sie es sich wünschte.
»Glauben Sie, dass ihr durch die Ägypter Gefahr droht? Wegen ihrer Augen?«
»Ganz gleich, wo das Imperium einmarschiert ist, immer hatten als Erste die Kranken, die Verwundeten, die Schwachen darunter zu leiden. Gesunde Männer und Frauen steckt der Pharao in seine Fabriken, aber die Übrigen… Ich kann dir keine Antwort daraufgeben, Merle.«
»Aber Junipa darf nichts geschehen!« Merle verstand nicht mehr, wie sie je hatte aufbrechen wollen, ohne Junipa Lebewohl zu sagen. Sie musste zu ihr, so schnell wie möglich. Vielleicht konnte sie sie sogar mitnehmen…
»Nein«, meldete sich die Fließende Königin zu Wort. »Das ist unmöglich.«
»Warum nicht?«, fragte Merle trotzig. Arcimboldo blickte auf, da er annahm, sie spräche mit ihm. Dann aber erkannte er, dass ihr Blick nach innen gerichtet war, und da wusste er, wem ihre Worte galten.
»Der Weg, den wir gehen müssen, ist schwer genug für einen allein. Der alte Mann hat versprochen, sich um deine Freundin zu kümmern.«
»Aber ich -«
»Es geht nicht.«
»Schneid mir nicht das Wort ab!«
»Du musst mir glauben. Hier ist sie in Sicherheit. Dort
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