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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Nachttiere? In Gedanken sah sie gelbe Raubtieraugen vor sich, die voller Mordlust in die Tiefe starrten, auf der Suche nach einem Mädchen in nassen, zerrupften Kleidern, mit strähnigem Haar und einem Wissen, das den Tod bedeuten mochte.
    Sie klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Sie pochte erneut. Die Schläge kamen ihr lauter vor als sonst, sie mussten im ganzen Viertel zu hören sein. Vielleicht war schon ein Löwe auf dem Weg hierher, schoss gerade im Sturzflug in die Tiefe, durch Schichten kalter Luft, dann durch die Dunstglocke über der Stadt, den Rauch der Feuer und Kamine, den schwachen Schein der Laternen, geradewegs auf Merle herab. Sie blickte alarmiert nach oben, über sich ins Dunkel, und vielleicht war da tatsächlich etwas, riesenhafte Schwingen aus Stein, Pranken so groß wie junge Hunde und -
    Die Tür ging auf. Unke packte sie am Arm und zog sie ins Haus.
    »Was hast du dir dabei gedacht, einfach fortzulaufen?« Der Blick der Meerjungfrau glühte vor Zorn, während sie hinter Merle die Haustür zuwarf. »Gerade von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet als -«
    »Ich muss mit dem Meister sprechen.« Merle blickte angstvoll zurück zur Tür.
    »Da war niemand«, sagte die Königin besänftigend.
    »Mit dem Meister?«, fragte Unke. Offenbar konnte sie die Stimme nicht hören. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
    »Tut mir Leid. Wirklich. Aber es ist wichtig.«
    Sie hielt Unkes Blicken stand und versuchte, in den Augen der Meerjungfrau zu lesen. Du bist von der Fließenden Königin berührt, hatte sie zu ihr gesagt. Im Nachhinein klangen die Worte fast wie eine Prophezeiung, die sich heute Nacht erfüllt hatte. Konnte Unke die Veränderung spüren, die mit Merle vorgegangen war? Witterte sie die fremde Präsenz in ihren Gedanken?
    Welche Gründe sie auch immer haben mochte, sie hörte auf, Merle Vorwürfe zu machen. Stattdessen drehte sie sich um. »Komm mit.«
    Schweigend gingen sie bis zum Tor der Werkstatt. Dort ließ Unke Merle stehen. »Arcimboldo arbeitet noch. Er arbeitet jede Nacht. Erzähl ihm, was du zu erzählen hast.« Damit verschwand sie im Dunkeln, und bald konnte Merle ihre Schritte nicht mehr hören.
    Allein blieb sie vor der Tür zurück. Es kostete sie Überwindung, die Hand zu heben und anzuklopfen. Was konnte sie Arcimboldo sagen? Wirklich die ganze Wahrheit? Würde er sie nicht für verrückt erklären und aus dem Haus werfen? Und noch viel schlimmer: Musste ihm nicht sogleich klar werden, welche Bedrohung sie für die Werkstatt und ihre Bewohner darstellte?
    Trotzdem verspürte sie eine merkwürdige Gewissheit, dass es richtig war, mit ihm statt mit Unke darüber zu sprechen. Die Meerjungfrau vergötterte die Fließende Königin. Merles Geschichte musste in ihren Ohren wie Blasphemie klingen, das Gerede eines Mädchens, das sich wichtig machen wollte.
    Schritte erklangen auf der anderen Seite der Tors, dann erschien Arcimboldos Gesicht im Türspalt. »Merle! Du bist wieder da!«
    Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr Verschwinden überhaupt wahrgenommen hatte. Unke musste ihm davon erzählt haben.
    »Komm rein, komm rein!« Hastig winkte er sie in die Werkstatt. »Wir haben uns große Sorgen gemacht.«
    Das war etwas Neues. Nie hatte Merle erlebt, dass sich im Waisenhaus jemand Sorgen um einen anderen gemacht hatte. Verschwand eines der Kinder, wurde halbherzig danach gesucht, zumeist ohne Erfolg. Eine Last weniger, ein freier Platz mehr.
    In der Werkstatt war es warm. Wasserdampf pulsierte in weißen Wölkchen aus Arcimboldos Gerätschaften, die durch ein Netz aus Rohren, Schläuchen und Glaskugeln miteinander verbunden waren. Der Spiegelmacher benutzte die Maschinen nur in der Nacht, wenn er allein war. Tagsüber wurde auf traditionelle Art und Weise gearbeitet, vielleicht, weil er seinen Schülern keinen allzu tiefen Einblick in die Geheimnisse seiner Kunst gewähren wollte.
    Schlief er überhaupt jemals? Schwer zu sagen. In Merles Augen gehörte Arcimboldo zum festen Inventar der Werkstatt, so wie die Eichentür und die hohen Fenster mit ihren staubverkrusteten Scheiben, in die Generationen von Schülern ihre Initialen gekratzt hatten.
    Arcimboldo trat an eines der Geräte, justierte einen Regler und drehte sich dann zu ihr um. Hinter ihm spie die Maschine in kurzen Schüben drei Dampfwolken aus. »So, nun erzähl! Wo warst du?«
    Merle hatte auf dem Rückweg lange darüber nachgedacht, was sie Arcimboldo sagen wollte. Die Entscheidung war ihr nicht leicht

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