Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
immer so dicht wie am ersten Tag.«
Die Stimme klang betroffen. »Ich habe mein Bestes gegeben, aber zuletzt bin auch ich der List des Feindes zum Opfer gefallen. Ich kann die Lagune nicht länger beschützen. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
»Aber… aber was ist mit all den Menschen? Und mit den Meerjungfrauen?«
» Keiner kann verhindern, dass die Ägypter einmarschieren. Im Augenblick sind sie noch nicht sicher, was mit mir geschehen ist. Das verhilft uns zu einem Aufschub. Aber es bleibt nur wenig Zeit, bis sie die Wahrheit herausfinden. Nur so lange ist die Stadt noch sicher.«
»Das ist nichts als eine Galgenfrist.«
»Ja«, sagte die Stimme traurig. »Nicht mehr und nicht weniger. Aber wenn sich die Faust des Pharaos um die Lagune schließt, wird er Ausschau nach dir halten. Der Gesandte kennt dein Gesicht. Er wird nicht ruhen, bis du tot bist.«
Merle dachte an Junipa und Serafin, an Arcimboldo und an Unke. An all diejenigen, die ihr etwas bedeuteten. Sie sollte diese Menschen zurücklassen und fliehen?
»Nicht fliehen«, widersprach die Stimme. »Sondern uns auf die Suche machen. Ich bin die Lagune. Ich werde sie niemals aufgeben. Stirbt sie, sterbe auch ich. Aber wir müssen die Stadt verlassen, um Hilfe zu finden.«
»Da draußen gibt es niemanden mehr, der uns helfen könnte. Das Imperium herrscht längst über die ganze Welt.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Merle hatte die rätselhaften Andeutungen satt, auch wenn sie allmählich kaum noch Zweifel hatte, dass die Stimme in ihrem Kopf tatsächlich der Fließenden Königin gehörte. Und obschon sie in einer Stadt aufgewachsen war, in der die Königin über alle Maßen verehrt wurde, mochte sich keine Ehrfurcht einstellen. Sie hatte nicht darum gebeten, in diesen Schlamassel hineingezogen zu werden.
»Erst gehe ich zurück zur Werkstatt«, sagte Merle. »Ich muss mit Junipa sprechen, und mit Arcimboldo.«
»Wir verlieren kostbare Zeit.«
»Das ist meine Entscheidung!«, gab Merle zornig zurück.
»Wie du meinst.«
»Heißt das, du versuchst nicht, mich umzustimmen?«
»Nein.«
Das überraschte sie, aber es gab ihr auch ein Stück ihres Selbstbewusstseins zurück.
Sie wollte gerade aus dem Spalt hinaus auf die Gasse klettern, als sich die Stimme noch einmal zu Wort meldete.
»Da ist noch etwas.«
»So?«
»Ich kann nicht viel länger in dieser Karaffe bleiben.«
»Warum nicht?«
»Der Wüstenkristall lähmt meine Gedanken.«
Merle lächelte. »Bedeutet das, du wirst weniger reden?«
»Es bedeutet, dass ich sterben werde. Meine Essenz muss sich mit lebenden Organismen verbinden. Das Wasser der Lagune ist voll davon. Aber die Karaffe ist nur aus kaltem, totem Kristall. Ich werde verwelken wie eine Pflanze, der man die Erde und das Licht entzieht.«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Du musst mich trinken.«
Merle verzog das Gesicht. »Dich… trinken?« »Wir müssen eins werden, du und ich.«
»Du bist schon in meinem Kopf. Und jetzt willst du auch noch meinen ganzen Körper? Kennst du das Sprichwort von demjenigen, dem man den kleinen Finger reicht und der stattdessen die ganze -«
»Ich werde sterben, Merle. Und die Lagune mit mir.«
»Das ist Erpressung, weißt du das? Wenn ich dir nicht helfe, werden alle sterben. Wenn ich dich nicht trinke, werden alle sterben. Was kommt als Nächstes?«
»Trink mich, Merle.«
Sie zog die Karaffe aus der Tasche. Die Facetten des Kristalls funkelten wie ein Insektenauge. »Und es gibt keinen anderen Weg?«
»Keinen.«
»Wie wirst du… ich meine, wie kommst du wieder aus mir raus? Und wann?«
»Wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
»Dachte ich’s mir, dass du so was sagen würdest.«
»Ich würde dich nicht darum bitten, wenn wir eine Wahl hätten.«
Merle dachte einen kurzen Moment daran, dass sie sehr wohl eine Wahl hatte. Noch konnte sie die Karaffe fortwerfen und so tun, als hätte diese Nacht nie stattgefunden. Doch wie hätte sie all das vor sich selbst leugnen können? Serafin, den Kampf mit dem Gesandten, die Fließende Königin.
Manchmal schleicht sich die Verantwortung an, ohne dass man sie kommen sieht, und dann, ganz plötzlich, lässt sie einen nicht mehr los.
Merle zog den Pfropfen aus der Karaffe und schnupperte daran. Nichts, kein Geruch.
»Wie… ähm, wie schmeckst du eigentlich?«
»Nach allem, was du willst.«
»Wie wär’s mit frischen Himbeeren?«
»Warum nicht?«
Nach einem letzten Zögern hob Merle die Öffnung der Karaffe an ihren Mund
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