Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
und trank. Die Flüssigkeit im Inneren war klar und kühl wie Wasser. Zwei, drei Schlucke, nicht mehr, dann war die Karaffe leer.
»Das hat nicht nach Himbeeren geschmeckt!«
»Wonach sonst?«
»Nach gar nichts.«
»Dann war es nicht so schlimm, wie du gedacht hast, oder?«
»Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anschwindelt.«
»Wird nicht wieder vorkommen. Fühlst du dich jetzt anders?«
Merle horchte in sich hinein, aber sie konnte keine Veränderung feststellen. In der Karaffe hätte ebenso gut einfaches Wasser sein können.
»Genauso wie vorher.«
»Gut. Dann wirf die leere Karaffe jetzt fort. Man darf sie nicht bei dir finden.«
Merle steckte den Stopfen auf das kleine Kristallgefäß und schob es unter einen Haufen Abfälle. Allmählich wurde ihr bewusst, was gerade geschehen war.
»Trage ich jetzt tatsächlich die Fließende Königin in mir?«
»Das hast du schon immer. Wie jeder, der an sie glaubt.«
»Das klingt nach Kirche und Priestern und religiösem Geschwätz.«
Die Stimme in ihrem Kopf seufzte. » Falls es dich beruhigt: Ich bin jetzt in dir. Wirklich in dir.«
Merle runzelte die Stirn, dann zuckte sie mit den Schultern. »Lässt sich wohl nicht mehr ändern.«
Die Stimme schwieg. Merle nahm das zum Anlass, endlich ihr Versteck zu verlassen. So schnell sie konnte, lief sie durch die Gassen zum Kanal der Ausgestoßenen. Sie hielt sich nahe an den Häuserwänden, damit man sie aus der Luft nicht entdecken konnte. Vermutlich wimmelte es am Himmel mittlerweile von den Löwen der Garde.
»Das glaube ich nicht«, widersprach die Fließende Königin. »Es sind nur drei Stadträte, die mich verraten haben, und sie müssen sich mit ihrem Teil der Leibgarde begnügen. Kein Ratsherr gebietet über mehr als zwei fliegende Löwen. Insgesamt macht das also höchstens sechs.«
»Sechs Löwen, die nichts anderes tun, als mich zu suchen?«, entfuhr es Merle. »Und das soll mich beruhigen? Herzlichen Dank!«
»Gern geschehen. «
»Du weißt nicht viel über uns Menschen, stimmt’s?«
»Ich hatte nie Gelegenheit, mehr über euch herauszufinden. «
Merle schüttelte stumm den Kopf. Seit Jahrzehnten wurde die Fließende Königin nun schon verehrt, es gab Kulte, die sich allein ihrer Anbetung widmeten. Doch die Königin selbst wusste nichts davon. Wusste nichts über die Menschen, nichts über das, was sie ihnen bedeutete.
Sie war die Lagune. Aber war sie deshalb auch ein Gott?
»Ist der Pharao ein Gott, weil die Ägypter ihn als Gott verehren?«, fragte die Stimme. »Für sie mag er einer sein. Für euch nicht. Göttlichkeit liegt allein im Auge des Betrachters.«
Merle war nicht in der Stimmung, sich darüber Gedanken zu machen, deshalb fragte sie: »Vorhin, die Sache mit dem Spiegel, das warst du, oder?«
»Nein.«
»Dann war es der Spiegel selbst? Oder der Schemen darin?«
»Hast du schon daran gedacht, dass du selbst ihn auf den Gesandten geworfen haben könntest?«
»Das müsste ich ja wohl wissen.«
»Du hörst eine Stimme in deinem Kopf, die vielleicht nur deine eigene ist. Möglich, dass du auch Dinge tust, ohne dir dessen bewusst zu sein - nur weil sie richtig sind.«
»Blödsinn.«
»Wie du meinst.«
Sie verloren kein weiteres Wort darüber, aber der Gedanke ließ Merle nicht mehr los. Wenn sie sich die Stimme der Fließenden Königin nun wirklich einbildete? Wenn sie sich die ganze Zeit über mit einem Trugbild unterhielte? Und, schlimmer noch, wenn sie ihre eigenen Handlungen nicht mehr unter Kontrolle hatte und sie überirdischen Mächten zusprach, die in Wahrheit gar nicht existierten?
Diese Vorstellung erschreckte sie mehr als die Tatsache, dass sich etwas Fremdes in ihr eingenistet hatte. Andererseits spürte sie dieses Fremde ja gar nicht. Es war alles so furchtbar verwirrend.
Merle erreichte die Mündung des Kanals der Ausgestoßenen. Das Fest war noch nicht beendet, ein paar Nimmermüde saßen auf der Brücke, unterhielten sich leise oder starrten stumm in ihre Becher. Junipa und die Jungen waren nirgends zu sehen. Vermutlich hatten sie sich längst auf den Weg nach Hause gemacht.
Merle lief den schmalen Gehweg am Kanalufer entlang, bis sie Arcimboldos Werkstatt erreichte. Das Wasser schwappte flüsternd gegen den Stein. Ein letztes Mal schaute sie zum Nachthimmel empor und stellte sich vor, wie die Löwen dort oben kreisten, außerhalb des Scheins aller Gaslichter und Fackeln. Die Soldaten auf ihren Rücken mochten im Dunkeln blind sein, doch waren Katzen nicht
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