Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Junipas Platz war hier, in diesem Haus, zwischen diesen Menschen.
Sie drückte die Freundin noch einmal an sich, umarmte dann Arcimboldo und schließlich auch Unke. »Lebt wohl«, sagte sie. »Wir sehen uns alle wieder, irgendwann«
»Kennst du denn den Weg?«, fragte Junipa.
»Ich werde ihn ihr zeigen«, sagte Unke, bevor Merle etwas erwidern konnte. Arcimboldo stimmte mit einem Nicken zu.
Merle und die Meerjungfrau wechselten einen Blick. Unkes Augen glänzten, aber vielleicht lag das nur an dem harten Kontrast zu dem Schatten, den der Rand der Maske über ihre Züge warf.
Ein letztes Mal ergriff Junipa Merles Hände. »Viel Glück«, sagte sie mit belegter Stimme. »Pass gut auf dich auf.«
»Die Fließende Königin ist bei mir.« Die Worte waren heraus, ehe Merle überhaupt den Gedanken fassen konnte, sie auszusprechen. Sie fragte sich, ob die Königin wohl nachgeholfen hatte, um Junipa zu trösten.
»Komm jetzt«, sagte Unke und ging mit raschen Schritten den Korridor hinunter.
Nach ein paar Metern blickte Merle sich noch einmal um, blickte zurück zum Tor der Werkstatt. Dort stand Junipa neben Arcimboldo. Einen irritierenden Augenblick lang sah Merle sich selbst an der Seite des Spiegelmachers stehen, seinen Arm auf ihrer Schulter. Dann aber verwandelte sich ihr Ebenbild wieder zurück in das Mädchen mit den Spiegelaugen, dunkles Haar wurde blond, ihre Statur noch schmaler, verletzlicher.
Unke führte sie auf den Innenhof, führte sie schnurstracks zur Zisterne, führte sie hinab in die Tiefe.
Der Schacht nahm sie auf wie etwas Lebendiges, und trotz der Kühle des Steins um sie herum wurde Merle warm, und sie dachte:
Ja, so kann es beginnen. So kann es wahrhaftig beginnen.
Durch die Kanäle
Meerjungfrauen! So viele Meerjungfrauen!
In der grüngrauen Dunkelheit ging von ihren Schuppenschwänzen ein silbriges Leuchten aus, wie das Flirren von Glühwürmchen in einer Sommernacht. Zwei von ihnen hielten Merle an den Händen und zogen sie mit sich durch die Kanäle.
Unke war gemeinsam mit Merle in die Zisterne gestiegen. Erst ganz allmählich war Merle klar geworden, dass das sanfte Rumoren an ihren Beinen nicht vom Wasser selbst stammte. Etwas bewegte sich in raschen Wirbeln um sie herum, betastete sie mit federleichten Fingern, zarter noch als eine Hundenase, die einen Fremden beschnuppert, ganz vorsichtig, ganz leicht. Sie hatte das Gefühl, als reichten die Berührungen tief unter ihre Haut, als lese jemand in ihrem Geist.
Unke sprach ein paar Worte in der seltsamen Sprache des Meervolkes. Fremd und geheimnisvoll hallten sie von den Wänden des Brunnenschachts wider, drangen tief unter die Oberfläche, an die Ohren derjenigen, die sie verstanden und wussten, was zu tun war.
Eine blasse Hand tauchte vor Merle aus dem Wasser und reichte ihr eine Kugel aus geädertem Glas. Es schien eine Art Helm zu sein. Unke half ihr, ihn über den Kopf zu stülpen und das Lederbändchen am Hals fest zu verschnüren. Merle hatte jetzt keine Angst mehr, nicht an diesem Ort, nicht unter diesen Geschöpfen.
»Ich bin bei dir«, sagte die Fließende Königin. Für sie war dies eine Heimkehr in ihr Reich, gefangen in Merles Körper, und doch durch ihn beschützt vor dem Gift der ägyptischen Magier.
Unke war im Brunnen zurückgeblieben, und nun tauchte Merle im Schwarm der Meerjungfrauen durch die Kanäle. Wohin brachte man sie? Weshalb konnte sie in der gläsernen Kugel atmen? Und warum strahlten die Meerjungfrauen eine angenehme Wärme aus, sodass Merle im eisigen Wasser nicht fror?
Fragen über Fragen, und immer noch kamen neue hinzu, eine Armee von Zweifeln, die sich in ihrem Kopf formierte.
»Auf einige kann ich dir Antworten geben«, sagte die Fließende Königin.
Merle wagte nicht zu sprechen, aus Furcht, dadurch die Luft im Glashelm aufzubrauchen.
»Du brauchst nichts zu sagen, damit ich dich hören kann«, sagte die Königin in Merles Innerstem. »Ich dachte, so viel hättest du bereits verstanden.«
Merle gab sich Mühe, in ihren Gedanken klare Sätze zu formulieren.
»Wie lange kann ich unter diesem Ding atmen?«
»So lange du möchtest.«
»Benutzt Unke es auch, wenn sie nachts hinunter in den Brunnen steigt?«
»Ja. Doch es wurde nicht für sie geschaffen. Es stammt aus einer Zeit, als das Meervolk noch über das alte Wissen verfügte, aus Zeitaltern, als das Wasser überall und die Vielfalt des Lebens in den Ozeanen unermesslich war. Manches davon ist geblieben, begraben in den alten
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