Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
draußen würdest du sie nur unnötig in Gefahr bringen. Euch beide.«
»Uns beide?«, fragte Merle bissig nach. »Dich, meinst du!«
»Merle!« Arcimboldo war aufgestanden und ergriff sie an den Schultern. »Wenn es wirklich die Fließende Königin ist, mit der du sprichst, dann solltest du einen anderen Ton anschlagen.«
»Pah!« Sie trat einen Schritt zurück. Plötzlich waren Tränen in ihrem Blick. »Was wisst Ihr denn schon? Junipa ist meine Freundin! Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen!«
Sie ging weiter rückwärts und rieb sich wütend die Augen. Sie wollte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt.
»Du lässt mich nicht im Stich!«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken, sehr sanft, sehr leise. Merle wirbelte herum.
»Junipa!«
Im Dunkel der offenen Werkstatttür blitzten die Silberaugen wie ein Paar Sterne, das sich vom Himmel hierher verirrt hatte. Junipa trat vor. Das gelbe Flackern des Ofenfeuers legte sich irrlichternd um ihre hageren Züge. Sie trug ihr weißes Nachthemd, darüber einen roten Überwurf.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Unke ist zu mir gekommen und hat gesagt, dass ich dich hier finden würde.«
Liebe, beste Unke, dachte Merle dankbar. Sie würde es nie offen zeigen, aber sie weiß genau, was in jedem von uns vorgeht.
Erleichtert schloss sie Junipa in die Arme. Es tat gut, die Freundin zu sehen und ihre Stimme zu hören. Ihr kam es vor, als wären sie seit Wochen getrennt gewesen, obwohl sie Junipa erst vor wenigen Stunden auf dem Fest zurückgelassen hatte.
Als Merle sich wieder von ihr löste, blickte sie Junipa geradewegs in die Spiegelaugen. Der Anblick beunruhigte sie nicht mehr; sie hatte in der Zwischenzeit Schlimmeres gesehen.
»Ich habe an der Tür gelauscht«, gestand Junipa mit dem Hauch eines Lächelns. »Unke hat mir gezeigt, wie man das am besten macht.« Sie deutete über ihre Schulter nach hinten, und dort, im Dunkel des Korridors, stand Unke und hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Merle konnte nicht anders: Sie lachte, obschon ihr gar nicht danach zu Mute war. Sie hatte sich selbst nicht mehr unter Kontrolle, lachte nur und lachte…
»Ihr habt alles gehört?«, gluckste sie schließlich. »Alle beide?«
Junipa nickte, während Unke ein Lächeln unterdrückte, ansonsten aber stocksteif stehen blieb.
»Dann haltet ihr mich sicher für verrückt.«
»Nein«, sagte Junipa ernsthaft, und Unke flüsterte halblaut:
»Die Berührte ist heimgekehrt, um Abschied zu nehmen. Der Weg des Helden nimmt seinen Anfang.«
Merle fühlte sich nicht wie ein Held, und dass dies alles der Anfang von irgendetwas sein könnte, daran wollte sie erst recht nicht denken. Aber insgeheim wusste sie natürlich, dass Unke Recht hatte. Ein Abschied, ein Anfang, und dann eine Reise. Ihre Reise.
Junipa ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Ich bleibe hier bei Arcimboldo und Unke. Geh du, wohin du gehen musst.«
»Junipa, erinnerst du dich noch an das, was du mir erzählt hast, in der allerersten Nacht?«
»Dass ich früher für alle nur ein Klotz am Bein war?«
Merle nickte. »Aber das bist du nicht! Und du wärst es auch nicht, wenn du mit mir kommen würdest!«
Junipas Lächeln überstrahlte das kühle Silber ihrer Augen. »Ich weiß. Seit jener Nacht hat sich vieles verändert. Arcimboldo kann meine Hilfe gebrauchen, vor allem, wenn es wirklich zu einem Kampf der Venezianer gegen die Ägypter kommen sollte. Die Jungen werden die Ersten sein, die sich einem Widerstand anschließen.«
»Das müsst ihr verhindern.«
»Du kennst doch Dario«, seufzte Arcimboldo. »Er wird sich von niemandem eine ordentliche Rauferei verbieten lassen.«
»Aber ein Krieg ist keine Rauferei!«
»Das wird er nicht einsehen. Und Boro und Tiziano werden mit ihm gehen.« Der Spiegelmacher sah jetzt sehr alt und grau aus, so als koste ihn das Eingeständnis seiner Machtlosigkeit große Kraft. »Junipa wird uns eine wertvolle Hilfe sein. In allen Dingen.«
Merle fragte sich, ob Arcimboldo Unke wohl liebte, so wie ein Mann eine Frau eben lieben kann. Sah er in Junipa die Tochter, die er und die Meerjungfrau nie haben würden?
Aber wer war sie schon, dass sie die Gefühle anderer ermessen wollte? Sie hatte nie eine Familie gehabt, wusste nicht, wie es war, Vater und Mutter zu haben. Vielleicht würde immerhin Junipa es erfahren, wenn sie Arcimboldo und Unke eine Chance gab.
Es war richtig, allein zu gehen. Nur sie und die Fließende Königin.
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