Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Paradies und sollten gemeinsam Kinder zeugen, um die Welt mit ihren Nachkommen zu bevölkern. Immerhin waren sie die ersten Lebewesen überhaupt.«
Vermithrax brummte etwas, und Merle sah ihn fragend an.
»Das ist wieder mal typisch für euch Menschen«, sagte er übellaunig. »Immer glaubt ihr, die Ersten und Besten zu sein. Dabei gab es zu jener Zeit längst die ersten Steinlöwen.«
»Das behaupten eure Legenden«, entgegnete Merle grinsend.
»Allerdings.«
»Dann werden wir wohl kaum herausfinden, welche die Wahrheit ist, oder? Nicht jetzt, nicht hier und vermutlich überhaupt niemals.«
Vermithrax musste notgedrungen zustimmen.
»Alle Mythen vom Ursprung erzählen die Wahrheit«, sagte die Königin mysteriös. »Jede auf ihre eigene, ganz spezielle Weise.«
Merle fuhr fort: »Lilith und Adam waren also ausersehen, miteinander Kinder zu zeugen. Aber immer, wenn Lilith sich ihrem Gefährten nähern wollte, wich er vor ihr zurück, erfüllt von Furcht und Ekel.«
»Hah!«, grölte Vermithrax. »Das ist dem ersten Löwen ganz bestimmt nicht passiert!«
»Adam jedenfalls fürchtete sich vor Lilith, und schließlich verlor Gott die Geduld und verbannte Lilith aus dem Garten Eden. Voller Zorn und Enttäuschung irrte sie durch die wüsten Regionen außerhalb des Paradieses, und hier traf sie auf Kreaturen, die nichts mit Adam gemein hatten, Wesen, die fremder und grausamer und schrecklicher waren als alles, was wir uns vorstellen können.«
»Ich kann mir so einiges vorstellen«, sagte der Löwe mit einem Seitenblick auf die Krallenspuren im Fels.
»Lilith paarte sich mit den Kreaturen und soll ihnen Kinder geboren haben, die an Scheußlichkeit sogar noch ihre Väter übertrafen - die Lilim. In den Legenden sind dies die Dämonen und Ungeheuer, die bei Nacht durch die Wälder und Wüsten und über die kahlen Felsen der Gebirge streifen.«
»Und Professor Burbridge kannte diese Geschichte«, sagte die Königin.
»Natürlich. Als er für seine Aufzeichnungen und wissenschaftlichen Arbeiten einen Namen für die Bewohner der Hölle brauchte, hat er sie nach den Lilim benannt.«
»Na gut«, sagte Vermithrax. »Unsere Zarenfreunde sind also ein paar von ihnen begegnet. Meint ihr nicht, wir sollten das lieber vermeiden?«
»Vermithrax hat Recht«, erwiderte die Königin. »Wir brechen besser auf. In der Luft sind wir sicherer.« Aber etwas war in der Art, wie sie den letzten Satz betonte, das Merle nur noch tiefer beunruhigte. Wer sagte denn eigentlich, dass Lilim keine Flügel hatten?
»Moment noch.« Sie lief zu den Kisten hinüber, die der Löwe bereits durchsucht hatte. Vorhin hatte sie aus dem Augenwinkel ein paar Gegenstände gesehen, die für Vermithrax nutzlos waren, die sie selbst aber vielleicht gebrauchen konnte. Sie fand ein kleines Messer in einer Lederscheide, nicht länger als ihre Hand, und steckte es zu dem magischen Spiegel in die Tasche ihres Kleides. Zudem entdeckte sie mehrere Blechdosen mit Essensrationen, steinharte Streifen aus getrocknetem Fleisch, Zwieback, mehrere Wasserflaschen und sogar ein paar Kekse. Sie packte alles in einen kleinen Lederrucksack, den sie in einem der Zelte gefunden hatte, und schnallte ihn auf ihren Rücken. Dabei kaute sie auf einem Stück Trockenfleisch, das so hart war wie Baumrinde und so zäh wie ihre Schuhsohlen, aber irgendwie gelang es ihr trotzdem, die Fasern hinunterzuwürgen. In den vergangenen Tagen hatte sie nur Beeren und Wurzeln gegessen; die Rationen der Zarenexpedition kamen ihr mehr als gelegen.
»Beeil dich«, rief Vermithrax ihr zu, als sie die Schnallen ihres neuen Rucksacks festzurrte.
»Ich komme«, sagte sie - und hatte unvermittelt das Gefühl, beobachtet zu werden.
Ihr Finger lösten sich von dem Lederriemen, und ein Schauer lief ihr über den Rücken - trotz der allgegenwärtigen Wärme. Ihre Haarspitzen waren wie elektrisiert. Ihr Herzschlag setzte einmal aus und raste dann so abrupt weiter, dass es beinahe wehtat.
Irritiert blickte sie zur Rückseite des Plateaus, zu der Felswand, dann hinüber zu den Zelten und den beiden Mündungen des Pfades, der von hier aus nach oben und nach unten führte. Nichts rührte sich, niemand war da. Nur Vermithrax stand am Rand der Klippe und klopfte ungeduldig mit einer Kralle auf den Fels.
»Was ist los?«, fragte die Königin.
»Spürst du nichts?«
»Deine Angst überdeckt alles.«
»Komm schon«, rief Vermithrax. Er hatte noch nichts bemerkt.
Merle rannte los. Sie wusste nicht, wovor
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