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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schraubte sich in weiten Windungen hinab. Dabei legte er sich gefährlich schräg auf die Seite, sodass Merle schon nach kurzer Zeit spürte, wie ihr Magen rebellierte - wieder einmal. Sie würde sich nie an diese vermaledeite Fliegerei gewöhnen können.
    Der Obsidianlöwe blieb nah an der südlichen Felswand. Das Gestein war dunkel und sah brüchig aus. Einmal glaubte Merle, eine Art Kerbe zu erkennen, die sich von der oberen Kante nach unten zog; es sah aus wie eine provisorische Treppe oder ein Weg, den jemand in den Fels gehauen hatte. Aber bei der nächsten Windung verlor sie das schmale Band wieder aus den Augen. Ohnehin hatte sie alle Hände voll damit zu tun, sich festzuklammern und ihren Blick mehr oder minder starr auf Vermithrax Hinterkopf zu richten, in der Hoffnung, ihre Übelkeit und ihren Schwindel dadurch halbwegs unter Kontrolle zu halten.
    Der Nebel lag wenige Meter unter ihnen, glatt wie ein zugefrorener See. Nur sein Inneres war erfüllt von endloser Bewegung, trägen Schlieren, die sich um sich selbst drehten wie einsame Tänzer aus Wasserdampf. Das rote Glühen war an manchen Stellen leuchtender als an anderen. Was immer sie dort in der Tiefe erwarten mochte, es würde nicht lange dauern, ehe sie ihm Auge in Auge gegenüberstanden.
    Hoch oben in der Luft war es kühl gewesen; je weiter sie sich jetzt aber abwärts bewegten, desto wärmer wurde es.
    Nicht heiß, nicht schwül, trotz der Feuchtigkeit, sondern auf eine angenehme Weise warm. Aber Merle war viel zu aufgeregt, um sich darüber zu freuen. Noch vor ein paar Minuten, als Vermithrax die Statuen umkreist hatte, hatte der Wind durch ihre Kleidung geschnitten wie eine Klinge durch Pergament, doch selbst da war die Kälte nicht bis zu ihrem Verstand vorgedrungen. Andere Gedanken beanspruchten ihre Aufmerksamkeit, Sorgen und Spekulationen, Ahnungen und ein gehöriges Maß Verwirrung.
    Dann durchstießen sie den Nebel.
    Es war nur ein kurzer Moment, sicherlich keine Minute, bis Vermithrax’ Senkflug sie durch die Dunstschicht getragen hatte und sie in einer sternförmigen Eruption aus Dampf und grauen Schwaden an der Unterseite hervorstießen. Merle hatte instinktiv die Luft angehalten, und als sie jetzt tief einatmen wollte, überkam sie Panik: Es ging nicht! Sie konnte nicht atmen! Ihre Kehle schnürte sich zu, ihr Brustkorb brannte wie Feuer, und dann war da nur noch Furcht, pure, instinktive Furcht.
    Aber, nein, da war Luft, und jetzt füllten sich auch ihre Lungen, aber sie schien irgendwie anders zu sein, vielleicht dünner, vielleicht schwerer, ganz egal. Allmählich beruhigte Merle sich wieder, und jetzt erst wurde ihr bewusst, dass auch Vermithrax ins Trudeln geraten war, gepackt von der gleichen Angst, ersticken zu müssen, von der Gewissheit, dass alles ein schlimmer, ein tödlicher Fehler gewesen war. Nun aber beruhigten sich seine Flügelschläge, wurden wieder sanfter, gleichmäßiger, und die Schraubenbahn ihres Abstiegs stabilisierte sich.
    Merle lehnte sich ein wenig vor. Nicht zu weit, weil sie schon ahnte, was sie sehen würde - einen Abgrund, einen bodenlosen Abgrund -, aber die Wirklichkeit übertraf ihre Befürchtung bei weitem.
    Wenn ein Begriff wie Tiefe jemals auf irgendetwas zugetroffen hatte - pure, beängstigende, jegliche Vernunft übersteigende Tiefe -, so war es dieser Schacht in die Eingeweide der Erde. Der Dunst war jetzt völlig verflogen, und an seine Stelle trat eine Klarheit, die auf Merle irgendwie falsch wirkte, irgendwie unpassend. Zuletzt hatte sie dieses Gefühl erlebt, als sie an der Seite der Meerjungfrauen durch Venedigs Kanäle getaucht war, geschützt von einer Glaskugel, die ihr einen wundersam scharfen Einblick in die Welt unter Wasser gestattet hatte. Nichtsdestoweniger war es ein Anblick, für den das menschliche Auge nicht geschaffen war, denn eigentlich hätte alles verschwommen und trüb sein müssen, ein wabernder Vorhang auf ihrer Netzhaut.
    Hier unten, im Inneren dieses Abgrunds, erging es ihr ganz ähnlich. Dies war kein Ort für Menschen, und es erstaunte sie, dass sie ihn dennoch mit all ihren Sinnen wahrnehmen, erfassen, wenn auch nicht begreifen konnte.
    Die Felswand fiel weiterhin lotrecht in die Tiefe ab, aber Merle kam es vor, als sähe sie jede Vertiefung, jede Gesteinsnase ein wenig deutlicher als oberhalb des Nebels. Auch erkannte sie die gegenüberliegende Seite jetzt besser, obgleich sie keineswegs den Eindruck hatte, die Wände ständen nun enger beieinander. Alles war in

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