Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Angebot, die Venezianer vor den Schergen des Imperiums zu beschützen. Widerständler hatten auf den Zetteln Parolen formuliert, Parolen gegen die Ratsherren und den Pharao und jeden anderen, dem sie die Schuld an der verzweifelten Lage gaben; Parolen, die sie zu anderen Zeiten ins Gefängnis, gewiss aber an den Pranger gebracht hätten. Heute aber kümmerte sich keiner mehr darum, denn die Angst hielt ganz Venedig in ihrem Bann, so endgültig, so ausweglos, dass selbst die Soldaten der Stadtgarde vergaßen, gegen Unruhestifter und Aufrührer vorzugehen.
Im Herzen dieses Aufruhrs, im geheimen Versteck der Rebellen - der Enklave, wie Dario das Gemäuer genannt hatte -, saß Serafin und frühstückte. Er tat es nicht in aller Ruhe, natürlich nicht, aber auch nicht in größter Eile, denn er wusste, dass er nichts anderes tun konnte, als abzuwarten. Sie würden ihn holen, früher oder später, und zu ihrem Anführer bringen, dem Herrn der Enklave. Weder Dario noch einer der anderen hatten den Führer der Rebellion beim Namen genannt - im Grunde eine nahe liegende Vorsichtsmaßnahme. Und doch beunruhigte Serafin die Geheimnistuerei der anderen mehr, als er sich eingestehen mochte.
Der Palazzo lag im Zentrum Venedigs, kaum mehr als einen Steinwurf von einem halben Dutzend berühmter Gebäude und Örtlichkeiten entfernt. Und doch umgab ihn eine Aura von Abgeschiedenheit, die Serafin ein wenig zu intensiv erschien, um nicht vielleicht doch magischen Ursprungs zu sein.
Letzte Nacht, auf dem Weg hierher, waren er und seine drei Begleiter überall in Venedig auf die Spuren der beginnenden Invasion gestoßen. An den Ufern mehrerer Kanäle hatten sie weitere der leeren Metallhülsen gefunden, in denen die Mumienkrieger ins Labyrinth der Wasserstraßen eingedrungen waren. Von den Kriegern selbst entdeckten sie keine Spur, aber ihnen allen war klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Die Mumien streiften, einzeln oder in kleinen Trupps, durch die Gassen, verbreiteten Angst und Schrecken und vollzogen die Eroberung der Stadt von innen heraus. Hier und dort hatten Serafin und die anderen in der Ferne laute Stimmen, auch Schreie gehört, und irgendwann hatten sie das Klirren von Stahl bemerkt, auf der anderen Seite eines Häuserblocks; doch nachdem sie losgerannt waren, hatten sie nur noch Leichen gefunden, die Serafin als Mitglieder der Diebesgilde identifizierte.
Keiner verstand so recht, was der Pharao mit dieser Art des Angriffs bezweckte. Seine Kriegsgaleeren und Sonnenbarken lagen in Sichtweite vor den Kais der Lagune, und es wäre ein Leichtes gewesen, rund um die ganze Hauptinsel Krieger an Land zu schicken.
Serafin vermutete, dass es dem Pharao einzig darum ging, die Venezianer zu verunsichern. Dabei war die Verunsicherung der Lagunenbewohner nach über drei Jahrzehnten der Belagerung ohnehin kaum zu übertreffen. Und falls es pure Grausamkeit war? Der makabre Spaß daran, die Invasion im Kleinen zu beginnen, um die Attacke dann, in einem Sturm aus Feuer und Stahl, auf ihren Höhepunkt zu treiben?
Serafin verstand das alles nicht, und er hoffte, dass der Herr der Enklave einige Antworten auf seine Fragen bereithielt.
Der Raum, in den Tiziano ihn geführt hatte, lag im ersten Stockwerk des Palazzo. Wie bei den meisten der alten Paläste stand das Erdgeschoss leer. Einstmals, als all diese Gebäude noch den reichen Händlerfamilien der Stadt gehört hatten, waren dort unten Waren und Güter gelagert worden, in schmucklosen Hallen, die alle paar Jahre vom acqua alta, Venedigs berüchtigtem Hochwasser, überschwemmt wurden.
Heute aber, nach so vielen Jahren der Isolation, gab es kaum noch Handel in Venedig, und die vereinzelten Überbleibsel machten niemanden reich. Die meisten der wohlhabenden Familien waren schon vor langer Zeit aufs Festland geflüchtet, gleich zu Beginn des Krieges, nicht ahnend, dass sie dort den Mumienheeren und Skarabäenschwärmen hilflos ausgeliefert waren. Niemand hatte voraussehen können, dass die Macht der Fließenden Königin die Stadt beschützen würde, und es war eine böse Ironie des Schicksals, dass jene, die genügend Geld zur Flucht besaßen, den Ägyptern als Erste zum Opfer fielen.
Die Fenster und Türen des leer stehenden Erdgeschosses waren mit großen Steinen zugemauert worden, augenscheinlich bereits zu einer Zeit, als noch niemand an eine Auferstehung des Pharaos gedacht hatte. Die Rebellen hatten sich also nicht in einem verlassenen Gebäude eingenistet. Serafin nahm
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