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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vielmehr an, dass der Anführer der Rebellion bereits seit langem hier lebte. Ein Edelmann vielleicht. Oder eben doch ein Händler, einer der wenigen, die übrig geblieben waren.
    Serafin schob sich das letzte Stück Brot in den Mund, als die Tür des schmucklosen Zimmers geöffnet wurde. Tiziano forderte ihn auf mitzukommen.
    Serafin folgte dem ehemaligen Spiegelmacherlehrling durch Gänge und Fluchten, eine Treppe hinauf und unter Torbögen hindurch. Die ganze Zeit über begegnete ihnen keine Menschenseele. Es schien, als wäre es allen streng untersagt, die Gemächer des Herrn der Enklave zu betreten. Zugleich aber hatte Serafin das Gefühl, dass sich auch die Atmosphäre der Korridore und hohen Säle änderte, ein kaum merkliches Verschieben der Wirklichkeit hin zu etwas anderem, Verwirrendem. Es war nicht das Licht, das sich änderte, auch nicht der Geruch - alles hier roch modrig und nach feuchtem Gestein -, nein, es war die Art und Weise, wie die Umgebung sich anfühlte, so als nähme er sie mit einem neuen Sinnesorgan wahr, das nur daraufgewartet hatte, endlich aktiv zu werden.
    Auf Tizianos Geheiß hin blieb er vor einer Doppeltür stehen, fast dreimal so hoch wie er selbst.
    »Warte hier«, sagte Tiziano. »Man wird dich hineinrufen.« Er wandte sich um und wollte gehen.
    Serafin hielt ihn an der Schulter zurück. »Wohin willst du?«
    »Zurück zu den anderen.«
    »Du bleibst nicht hier?«
    »Nein.«
    Argwöhnisch blickte Serafin von Tiziano zur Tür, dann wieder zurück auf den Jungen. »Das hier ist keine Falle oder so was?« Er kam sich selbst ein wenig albern vor, während er diesen Verdacht aussprach, aber er konnte seinen alten Streit mit Dario nicht vergessen. Seinem - früheren? - Erzfeind traute er jede Gemeinheit zu.
    »Welchen Sinn hätte das?«, fragte Tiziano. »Wir hätten dich einfach den Mumien überlassen können, oder? Dann hätte sich die Sache von selbst erledigt.«
    Serafin zögerte noch, dann nickte er langsam. »Tut mir Leid. Das war undankbar.«
    Tiziano grinste ihn an. »Dario kann ein ziemliches Scheusal sein, was?«
    Jetzt konnte sich auch Serafin ein Lächeln nicht verkneifen. »Du und Boro, ihr habt das gemerkt?«
    »Sogar Dario hat seine guten Seiten. Ein paar. Sonst wäre er nicht hier.«
    »Das gilt wahrscheinlich für uns alle, nehme ich an.«
    Tiziano machte eine aufmunternde Kopfbewegung zur Tür hinüber. »Warte einfach ab.« Damit drehte er sich endgültig um und ging zügig, aber ohne übertriebene Hast den Weg zurück, den sie gemeinsam gekommen waren. Serafin schoss siedend heiß durch den Kopf, dass er den Rückweg allein nicht mehr finden würde. Das Innere der Enklave war ein einziger Irrgarten.
    Die rechte Hälfte der Tür schwang wie von Geisterhand auf, und mit einem Mal war er von etwas Hellem, Weichem umgeben, das seinen Körper umspielte wie hundert sanfte Finger, federleicht, fast körperlos. Überrascht trat er einen Schritt zurück. Nur ein hauchdünner Seidenvorhang, den ihm ein Luftzug entgegenblies.
    »Tritt ein«, sagte eine Stimme.
    Eine weibliche Stimme.
    Serafin gehorchte und schob den Vorhang beiseite, sehr vorsichtig, weil er das Gefühl hatte, das zarte Gewebe könne zwischen seinen Fingern zerreißen wie Spinnweben. Dahinter bauschte sich, kaum zwei Schritt entfernt, eine Wand aus Vorhängen auf, alle aus dem gleichen Material und im selben hellen Gelbton, der ihn an die Farbe von Meersand erinnerte. Bevor er sich in Bewegung setzte, besann er sich darauf, die Tür hinter sich zu schließen. Dann erst wagte er sich tiefer in dieses Labyrinth aus Seide.
    Einen Vorhang nach dem anderen passierte er, bis er allmählich die Orientierung verlor, auch wenn er die ganze Zeit über nur geradeaus ging. Wie weit lag die Tür zurück? Hundert Meter, oder nur zehn, fünfzehn?
    Allmählich vermochte er Formen hinter der Seide auszumachen, kantige Umrisse, vermutlich von Möbelstücken. Zugleich wurde der feucht-modrige Geruch Venedigs von einem ungleich exotischeren Duft überlagert, einem ganzen Feuerwerk von Düften. Sie erinnerten ihn an die seltenen Gewürze, die er vor Jahren einmal aus dem Lager eines Kaufmanns gestohlen hatte.
    Jenseits der Vorhänge lag eine andere Welt.
    Der Boden war mit Sand bestreut, so hoch, dass die Sohlen seiner Stiefel einsanken, ohne auf festen Grund zu stoßen. Rundherum wehten weitere Vorhänge, alle im selben Gelb wie der Sand am Boden. Die Decke war mit dunkelblauen Stoffbahnen abgehangen, die einen scharfen Kontrast

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