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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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rotgoldene Helligkeit getaucht, die von dem Gestein selbst ausging, von einem haarfeinen Aderwerk aus Glutbahnen, an manchen Stellen geballt, an anderen fast unsichtbar.
    » Beeindruckend «, sagte die Königin, und Merle fand, dass dies eine ganz und gar unzureichende Beschreibung war, ein sprödes, leeres Wort angesichts dieses Wunders.
    Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dies hier ein Ausschnitt der eigentlichen, wahrhaftigen Hölle sein musste. Etwas, das außer Professor Burbridge und einer kleinen Zahl Auserwählter noch kein Mensch gesehen hatte.
    Dann entdeckte sie die Zelte.
    »Seht ihr das?«, brüllte Vermithrax.
    »Ja«, flüsterte Merle. »Ich seh sie.«
    Ein Stück weit unter ihnen und etwa achtzig Meter seitlich befand sich ein Absatz in der Felswand, eine vorgeschobene Klippe, wie die umgedrehte Nasenspitze eines Riesen. Die Oberseite war flach und, grob geschätzt, zwanzig mal zwanzig Schritt weit. Darauf standen drei Zelte. Eines war zerfetzt, obwohl die Stangen noch in die Luft ragten wie das Geäst eines abgestorbenen Baums. Etwas hatte die Zeltplane aufgeschlitzt. Ein Messer vielleicht. Oder Klauen.
    Die beiden anderen Zelte wirkten unbeschädigt. Die Plane am Eingang des einen war zurückgeschlagen. Während Vermithrax sich dem Lager näherte, konnte Merle erkennen, dass die Felsnase verlassen war.
    »Was tun wir jetzt?«, fragte sie.
    »Du bist neugierig, oder?«
    »Du nicht?«
    »Ein Verstand kann nur eine begrenzte Menge an Wissen aufnehmen, und meiner macht da keinen Unterschied.«
    Angeberin, dachte Merle. »Dann interessiert dich nicht, was aus den Leuten geworden ist?«
    »Es interessiert dich. Das genügt.«
    Vermithrax zog mehrere Runden vor dem Felskliff. Merle bemerkte, wie sorgsam er die Zelte und die anderen Überreste des Lagers begutachtete. Da gab es eine Feuerstelle; eine Reihe von Kisten, die weiter hinten an der Felswand gestapelt waren; eine Schüssel, gleich neben dem verkohlten Holz des Lagerfeuers; außerdem drei Gewehre, die an die Wand gelehnt waren, so als wären ihre Besitzer nur für einen Augenblick hinter den Felsen verschwunden. Was immer diesen Leuten zugestoßen sein mochte, ihnen war nicht einmal die Zeit geblieben, nach den Waffen zu greifen. Merle lief ein eiskalter Schauder über den Rücken.
    Schließlich hatte der Obsidianlöwe genug gesehen, vollzog einen abrupten Schwenk und landete auf der Felsnase, nur wenige Schritte von dem zerstörten Zelt entfernt. Jetzt konnte Merle auch erkennen, dass der Pfad, den sie schon weiter oben gesehen hatte, in dieses Plateau mündete und rechts von ihnen weiter in die Tiefe führte.
    Sie sprang von Vermithrax’ Rücken, landete auf beiden Füßen - und fiel erst einmal plump aufs Hinterteil. Ihre Knie waren weich, ihre Muskeln erstarrt. Es war fast schon ein gewohntes Gefühl, aber nie zuvor war es so schlimm gewesen - vermutlich ebenfalls eine Folge der veränderten Luftverhältnisse, genau wie die Müdigkeit, die sie jetzt stärker spürte als an den vergangenen Tagen. Dabei lag ihr Aufbruch von dem Plateau, auf dem sie übernachtet hatten, nicht einmal sechs oder sieben Stunden zurück.
    Es sei denn, durchfuhr es sie plötzlich, sie hatten beim Eintritt in diese andere Welt, beim Durchqueren des Nebels oder schon früher, als sie die steinernen Wächter passiert hatten, auf irgendeine Weise Zeit verloren. Waren sie in Wahrheit nicht nur ein paar Sekunden, sondern mehrere Stunden durch die Dunstschicht geirrt?
    Unsinn, sagte sie sich, und »Unsinn!« sagte die Fließende Königin in ihren Gedanken. Aber irgendwie erschien es Merle beide Male nicht allzu überzeugend.
    Nachdem sich ihre Beine entkrampft hatten und ihre Knie wieder das Federgewicht ihres Körpers trugen, machte sie sich daran, die Zelte zu durchsuchen. Vermithrax bat sie, vorsichtig zu sein, während er die Gewehre beschnupperte und mit Schnauze und Pranken in den Kisten wühlte. Sogar die Königin mahnte sie zur Vorsicht, was nun wirklich etwas ganz und gar Neues war.
    Zu guter Letzt entdeckten sie wenig, was ihnen weiterhelfen würde. Merle fand in einem der unversehrten Zelte ein dünnes Lederband, an dem als Anhänger eine getrocknete Hühnerklaue baumelte. Oben ragten aus dem abgetrennten Glied mehrere Sehnen hervor wie Drähte aus einer Puppe; als Vermithrax sie aufforderte, daran zu ziehen, krampften sich die Hühnerkrallen zusammen, als wäre mit einem Mal wieder Leben in ihnen. Vor Schreck hätte Merle das scheußliche Ding fast fallen

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