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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie davonlief und ob es überhaupt einen vernünftigen Grund für ihre Furcht gab. Sie hatte Vermithrax fast erreicht, als ein schrilles Knirschen, lang gezogen und schmerzhaft, sie herumwirbeln ließ.
    Sie sah es nicht auf den ersten Blick. Nicht wirklich. Da war etwas, eine Bewegung vielleicht, eine Veränderung nahe der Stelle, an der sie den Rucksack geschultert hatte.
    »Merle!«
    Der Fels erbebte unter ihren Füßen, als Vermithrax auf sie zujagte, viel schneller und behänder, als sie es für möglich gehalten hatte, ein schwarzer Blitz aus Obsidian, der abrupt hinter ihr war, sie mit einer seiner Schwingen vom Boden hob und auf seinen Rücken gleiten ließ wie über eine Rampe aus steinernen Federn.
    »Lilim«, ertönte es in ihrem Kopf, und es dauerte einen Moment, ehe ihr klar wurde, dass es nicht ihr eigener Gedanke war, sondern ein Ausruf der Fließenden Königin.
    Vermithrax setzte zum Abheben an, und einen Herzschlag später schnellten sie über den Rand der Klippe hinaus, immer noch Sprung, nicht Flug, und sackten einen guten Meter abwärts ins Leere, ehe die Schwingen das Tonnengewicht des Löwen abfingen, ihre Lage in der Luft stabilisierten und sie zugleich fort von der Felswand trugen, fort vom verlassenen Lager der Zarenexpedition und dem Odem des Todes, der die leeren Zelte umfing.
    Merle wollte sich umschauen, aber die Königin sagte scharf: »Tu das nicht!«
    Natürlich tat sie es trotzdem.
    Die Felswand erwachte zum Leben. Dann erkannte Merle, dass sich nicht der Stein selbst in Bewegung setzte, sondern etwas, das vielleicht schon die ganze Zeit über dort gewesen war, gewartet hatte, gelauert oder gerade erst aus irgendwelchen unsichtbaren Spalten und Löchern emporgekrochen war wie die Skarabäenschwärme des Imperiums.
    Ganze Flächen dessen, was sie eben noch für Fels gehalten hatte, lösten sich auf und strömten jetzt von allen Seiten auf die Felsnase zu, ein Zusammenziehen und Zusammenballen, das so fremdartig und bizarr war, dass ihr kein Vergleich zu irgendeiner menschlichen oder tierischen Bewegung in den Sinn kam. Es war nicht wie das Krabbeln von Insekten, auch wenn es dem vielleicht am nächsten kam; vielmehr wogten die dunklen Schuppen und Panzer in groteskem Zickzack auf das Plateau zu, scheinbar ungeordnet und in völligem Chaos, und doch so gezielt, dass sich innerhalb von Sekunden der Ring um die Felsnase schloss.
    Unter der wogenden Oberfläche, die aus einer Unzahl mannsgroßer Leiber bestand, kamen immer wieder verkantete Stränge und Strukturen zum Vorschein, die Glieder sein mochten, vielfach gebrochen und verwinkelt, spinnenartig und doch so gänzlich anders. Dabei hinterließen sie eine Spur tiefer Kerben im Fels, wo sich ihre unsichtbaren Klauen festgekrallt und den Stein zerfetzt hatten, wirre Bahnen wie das Relief eines wahnsinnigen Bildhauers.
    Die dunkle Flut quoll aus allen Richtungen über die Ränder des Plateaus, auch von unten den Überhang hinauf, und begrub die Zelte und Kisten unter sich. Die Kreaturen verbargen sich unter ihren steinernen Panzern oder dem, was Merle dafür hielt, und doch war jedes kurze Aufblitzen von Fängen und Krallen genug, um ihr schieres Entsetzen einzuflößen.
    Vermithrax jagte immer schneller hinaus in die Leere, fort von dem, was sich in ihrem Rücken abspielte, aber Merle sah trotzdem noch, wie das Plateau gänzlich unter dem Ansturm der Lilim versank, verschluckt, einem Stein gleich, der unaufhaltsam hinabgezogen wird in einen Strudel aus Treibsand.
    Wie von selbst kroch ihre Hand in die Tasche, in der Merle den Spiegel aufbewahrte. Gedankenverloren schob sie ihre Finger durch die Oberfläche, tiefer hinein in die Wärme des magischen Raumes dahinter. Ganz kurz glaubte sie ein Flüstern zu hören, eine Stimme - die des Schemens, der darin gefangen war? - dann schob sie den Arm bis zum Ellbogen hinein, und endlich spürte sie wieder die Hand, die auf der anderen Seite nach der ihren griff, über ihre Finger strich und ihr ganz sanft ein Gefühl von Geborgenheit gab.

Die Enklave

    Der Himmel hing grau und schwer über Venedig und kündete von Regen, der schon bald auf die Paläste und Kanäle herniederprasseln sollte. Ein scharfer Wind, viel zu kühl für diese Jahreszeit, wehte von Norden heran und pfiff durch verwinkelte Gassen, über menschenleere Plätze und die Promenaden am Ufer der Inseln. Er wirbelte Flugblätter auf, die Unermüdliche vor ein paar Tagen verteilt hatten, nach dem Auftauchen des Höllenboten und seinem

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