Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
zur umgebenden Helligkeit schufen, wie ein Abendhimmel über der Wüste. Und dann begriff er, dass genau dies der Eindruck war, den all das erwecken sollte: Die Illusion einer Wüstenlandschaft, vollkommen künstlich, und doch so anders als alles, was man sonst in Venedig finden konnte. Es gab keine gemalten Dünen, keine Statuen von Kamelen oder Beduinen; nichts hier war echt, und doch erschien alles so überzeugend wie ein tatsächlicher Besuch in der Wüste - so zumindest stellte sich Serafin, der die Lagune nie verlassen hatte, das Gefühl vor, das eine Wüste in einem Menschen heraufbeschwor.
Im Zentrum dieses wundersamen Ortes waren mehrere Inseln aus weichen Kissen aufgehäuft. Der Gewürzgeruch entströmte Schalen, aus denen sich haarfeine Rauchsäulen emporkräuselten. Zwischen den Kissen befand sich ein Podest aus grobem Sandstein, und darauf stand, schwer und klobig, ein rundes Wasserbecken aus demselben Material. Die Wasseroberfläche hatte einen Durchmesser von gut einem Meter und war leicht aufgewühlt. Hinter dem Becken stand eine Frau, nur ihr Oberkörper war zu sehen. Sie hatte den rechten Arm bis zum Ellbogen in das Wasser geschoben. Serafin glaubte erst, sie rühre darin, aber dann sah er, dass sie den Arm vollkommen still hielt.
Sie blickte auf und lächelte. »Serafin«, sagte sie, und er fand es ganz erstaunlich, wie wohlklingend sein Name sich anhören konnte, wenn ein solches Geschöpf ihn aussprach.
Sie war schön, vielleicht die schönste Frau, die er je gesehen hatte - und als Botenjunge des Umberto, der magische Stoffe für Venedigs Edeldamen webte, war er so mancher Schönheit begegnet. Sie hatte glattes, rabenschwarzes Haar, so lang, dass die Spitzen hinter dem Rand des Sandsteinbottichs verschwanden. Ihr schlanker Körper war in hautengen Stoff gekleidet, aufgeraut wie feiner Pelz und vom selben Gelb wie die Vorhänge. Große, haselnussbraune Augen musterten ihn. Ihre Lippen waren voll und dunkelrot, obwohl er sicher war, dass sie keine Schminke trug. Die Haut ihres Gesichts und der linken Hand, die auf dem Rand des Beckens ruhte, war dunkel; keineswegs schwarz wie die der Mohren, von denen es einige in Venedig gab, aber stark von der Sonne gebräunt.
Und dann, mit einem Mal, wusste er es.
Sie war eine Ägypterin.
Er erkannte es mit absoluter Gewissheit, bevor sie noch ein weiteres Wort an ihn richten oder sich vorstellen konnte. Die Anführerin der Rebellion gegen die Ägypter war eine Ägypterin.
»Keine Angst«, sagte sie, als sie bemerkte, dass er einen Schritt zurückwich. »Du bist in Sicherheit. Niemand hier will dir etwas Böses.« In ihrem Blick brannte ein Funke von Bedauern, als sie die Rechte aus dem Wasser zog und vor sich auf den steinernen Rand legte. Weder die Hand noch ihr Arm waren nass. Keine Spur von Wasser, das von der Haut oder dem seltsamen Material ihres Kleides perlte.
»Wer sind Sie?« Er hatte das Gefühl, ganz schrecklich zu stammeln. Er hatte allen Grund dazu.
»Lalapeja«, sagte die Frau. »Ich glaube nicht, dass du die Sprache kennst, aus der dieser Name stammt.«
»Ägyptisch?« Er fühlte sich mutig, geradezu verwegen, als er dieses eine Wort ausstieß.
Sie lachte sehr hell, fast melodisch. »Ägyptisch? Oh nein, ganz und gar nicht. Dieser Name war schon alt, als die ersten Pharaonen ihre goldenen Throne bestiegen, vor vielen tausend Jahren.«
Und damit trat sie hinter dem Becken hervor, in einer seltsam fließenden Bewegung, die Serafin befremdete und verwirrte - bis er ihre Beine sah.
Sie hatte vier davon.
Die Beine einer Löwin. Den Unterleib einer Löwin.
Serafin prallte so unwillkürlich zurück, dass er sich in einem der Seidenschleier verhedderte, das Gleichgewicht verlor, nach hinten stürzte und eine Flut gelber Seide mit sich riss.
Als er sich endlich davon befreit hatte, stand sie direkt vor ihm. Er hätte nur einen Arm ausstrecken müssen, und er hätte eine ihrer Pranken berühren können, das zarte gelbe Fell, das sie bedeckte und das er eben noch für ein enges Kleid gehalten hatte.
»Sie… Sie sind…«
»Bestimmt keine Meerjungfrau.«
»Eine Sphinx!«, entfuhr es ihm. »Eine Sphinx des Pharaos!«
»Der letzte Teil ist nicht wahr. Ich kenne den Pharao nicht einmal, und ich bedauere es zutiefst, dass einige meines Volkes sich seiner bedienen.«
Serafin versuchte, auf die Beine zu kommen, aber es gelang ihm nur teilweise, und als er sich erneut von ihr zurückzog, schleppte er an einem Fuß den herabgerissenen Vorhang
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