Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
sicher.
    »Los, steig auf!«, brüllte der Löwe, und ehe ihr ein gutes Argument dagegen einfiel, sprang sie schon auf seinen Rücken, krallte die Hände in seine Mähne, beugte sich vor und presste den Oberkörper fest an sein Obsidianfell.
    »Was hat er vor?«
    »Was hast du vor?«
    »Sieh sie dir an. Sie leben nicht.« Vermithrax’ Pranken stießen sich vom Boden ab, und Sekunden später schwebten sie bereits meterhoch über dem Hutschachtelplateau.
    »Sie leben nicht«, wiederholte Merle für sich selbst und setzte dann lauter hinzu: »Na und? Was bedeutet das?«
    »Das heißt, es sind keine Lilim. Zumindest keine gefährlichen.«
    »Ach ja?«
    »Warte ab«, sagte die Fließende Königin, die Merles Zweifel spürte. » Vielleicht hat er Recht.«
    »Und wenn nicht?«
    Sie bekam keine Antwort. Sie hätte sie wahrscheinlich auch gar nicht gehört, denn jetzt waren die drei Köpfe nah genug heran, dass sie Details erkennen konnte.
    Es waren menschliche Schädel, ganz ohne Zweifel, und sie waren aus Stein gehauen. So hoch oben in der Luft gab es keine Anhaltspunkte, um ihre Größe abzuschätzen, aber Merle vermutete, dass jeder einzelne mindestens fünfzig Meter hoch war. Ihre Gesichter waren starr und grau, die Augen offen, aber ohne Pupillen. Das steinerne Haar, geformt wie ein Helm, lag eng am Kopf und ließ die Ohren frei. Die gewaltigen Lippen standen einen Spaltbreit offen, doch was Merle von weitem für ein Portal zum Inneren der Schädel gehalten hatte, erwies sich von nahem als eine Illusion, die den Eindruck erwecken sollte, dass die Schädel sprachen.
    Jetzt hörte sie auch Stimmen.
    Worte strömten über die Ebene wie Vogel schwärme, flatternd und unruhig, eine Sprache, die Merle nie im Leben gehört hatte.
    Die Schädel waren noch etwa achthundert Meter entfernt und näherten sich in einer Pfeilformation, ein Kopf an der Spitze, die beiden anderen rechts und links dahinter.
    »Diese Stimmen… Sind sie das?«
    »Ich weiß nicht, ob es ihre Stimmen sind, aber sie kommen aus ihrem Inneren«, sagte Vermithrax. Merle fiel auf, dass er seine Ohren aufgestellt hatte. Er konnte nicht nur besser sehen als sie, er hörte auch viel mehr und war in der Lage, Klänge zu unterscheiden und ihre Herkunft zu bestimmen.
    »Wie meinst du das, nicht ihre Stimmen?«
    »Ein anderer spricht aus ihnen. Sie leben nicht. Ihr Stein ist nicht -«
    »Beseelt?«
    »Genau.« Vermithrax verstummte und konzentrierte sich ganz auf seinen Flug. Merle hatte angenommen, sie würden vor den Köpfen fliehen, aber der Löwe hatte sich bislang still in der Luft gehalten, an einem Punkt, der geradewegs in der Flugbahn des vorderen Steinschädels lag. Zu ihrem grenzenlosen Schrecken begriff sie nun, dass Vermithrax sich drehte - nicht etwa von den Köpfen fort, sondern zu ihnen hin. Er hatte tatsächlich vor, ihnen entgegenzufliegen.
    »Vermithrax! Was tust du?«
    Der Obsidianlöwe gab keine Antwort. Stattdessen ließ er seine Schwingen noch schneller auf und nieder sausen, manövrierte sich ein wenig weiter nach links - und wartete.
    »Was hast du -«
    »Erplant irgendwas.«
    »Ach?« Merle wäre vermutlich rot vor Wut geworden, hätte ihr die Furcht nicht alles Blut aus dem Gesicht gepresst. »Sie kommen genau auf uns zu!«
    Die unheimlichen Stimmen schallten jetzt immer lauter über die Einöde und wurden von Felswänden und Gesteinstürmen zurückgeworfen. Merle kam es vor, als hinge sie inmitten eines Feuerwerks fremdartiger Klänge und Worte, als explodierte rund um sie herum eine Vielzahl der unterschiedlichsten Töne wie bunte Flammenfontänen. Selbst wenn sie der fremden Sprache mächtig gewesen wäre, hätte sie wohl nichts von alldem verstanden, so laut, so schrill waren die Silben aus dieser Nähe. Noch ehe die Schädel heran waren, setzte in Merles Ohren ein grelles Pfeifen ein.
    Vermithrax schüttelte sein Haupt, als könnte er damit den Lärm aus seinen empfindlichen Ohren vertreiben. Seine Muskeln spannten sich. Abrupt schnellte er vorwärts, auf den vorderen Schädel zu, legte sich im letzten Augenblick schräg, brüllte Merle etwas Unverständliches zu - wohl eine Warnung, sich besonders gut festzuhalten - und tauchte unter dem Felsgrat des rechten Wangenknochens hindurch. Merle sah das gewaltige Gesicht an sich vorüberrauschen wie eine Wand aus Granit, zu groß, um es mit einem Blick zu erfassen, zu schnell, um mehr als nur die Schwere, die Größe, die pure Gewalt seiner Geschwindigkeit wahrzunehmen.
    Sie rief

Weitere Kostenlose Bücher